Seit über dreissig Jahren leidet Katharina Abplanalp an Schizophrenie. Wahnvorstellungen und starke Ängste prägen ihr Leben. Jahrelang musste die 54-Jährige deswegen Medikamente schlucken. Doch diese hatten happige Nebenwirkungen: Bei einer Grösse von 152 Zentimetern wiegt sie heute 106 Kilo. Sie hat zudem Diabetes und Blutkrebs.
Die pensionierte Lehrerin ist überzeugt, dass ihr all das hätte erspart bleiben können: «Die Ärzte haben mir zu lange und zu viel von den Medikamenten gegeben.» Die Tabletten hätten sie «träg und dumpf» gemacht. Antriebslos sei sie geworden und immer dicker. «Es ist, als ob ich dauernd ein Loch im Bauch hätte», sagt sie.
Fachleute nennen die Medikamente gegen Schizophrenie Neuroleptika (siehe Kasten Seite 22). Dazu gehören Haldol, Solian, Zyprexa, Seroquel und Risperdal. Sie alle können zwar Symptome wie Wahnvorstellungen und die massiven Ängste dämpfen – doch sie haben schwere Nebenwirkungen.
Keine Psycho-Tabletten,weniger Rückfälle
Zudem bestätigen immer mehr Studien: Die Mittel nützen langfristig wenig. In einer Langzeitstudie haben Forscher der Universität Chicago (USA) herausgefunden: Patienten, die keine Neuroleptika nahmen, hatten nach 15 Jahren weniger Rückfälle als solche, die die Pillen dauernd schluckten. Andere Studien wiesen nach, dass das Hirn der Patienten schrumpft, je länger und je mehr Medikamenten sie eingenommen hatten. Und der deutsche Psychiater Volkmar Aderhold von der Uni Greifswald kommt zum Schluss: Es sei nicht erwiesen, dass Medikamente den Verlauf der Krankheit bessern. Zudem steige das Risiko für tödliche Herzkrankheiten. «Angesichts der deutlich erhöhten Sterblichkeit» rät Aderhold Ärzten daher, diese Mittel nur äusserst sparsam zu verordnen.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Umsatz der Pillen steigt weltweit. Laut dem Marktforschungsinstitut IMS Health verdienten Hersteller dieser Medikamente 2008 rund 21 Milliarden Dollar – rund 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Gemäss dem schweizerischen Apothekerverband Pharmasuisse hat sich der Absatz von Neuroleptika auch in der Schweiz seit zehn Jahren fast verdoppelt: Rund 1 Million Packungen verkauften die Apotheken im letzten Jahr.
Grund: Ärzte verschreiben die Psycho-Tabletten immer häufiger auch anderen Patientengruppen, wie Jugendlichen. Laut einer holländischen Studie nahmen 2005 rund 70 000 der unter 19-Jährigen Neuroleptika, mehr als doppelt so viele wie acht Jahre zuvor.
In vielen psychiatrischen Zentren der Uni-Kliniken laufen Programme zur Früherkennung von Schizophrenie. Das Ziel: Jugendliche mit erhöhtem Risiko zu erfassen und zu behandeln. Doch auch bei ihnen ist der Nutzen der Pillen umstritten. Claudia Meier (Name geändert) hat einen Sohn mit der Krankheit. Seit er 16 ist, muss er ununterbrochen Pillen schlucken. Heute ist er 32. Trotz der Medikamente konnte er keine Ausbildung abschliessen. Er kann nicht arbeiten und ist auf die IV-Rente und Ergänzungsleistungen angewiesen. Claudia Meier sagt, dass die Tabletten ihn zwar «ruhiger machen». Er habe keine Gewaltausbrüche mehr, Wahnanfälle seien sehr selten geworden. Doch gleichzeitig sei er übergewichtig und apathisch. Meier: «Ich mache mir grosse Sorgen wegen der schweren Nebenwirkungen, sehe aber keinen anderen Weg.» Sobald ihr Sohn die Pillen abgesetzt habe, seien die Anfälle erneut aufgetreten.
Bei Kindern können die Folgen verheerend sein
Vermehrt bekommen auch Jugendliche und Kinder ohne Schizophrenie solche Mittel. Oft genüge ein aggressives rebellisches Verhalten, schreibt die Arzneikommission der Schweizer Apotheker in einem Bericht. Ärzte setzen Neuroleptika vor allem dann ein, wenn Ritalin nicht mehr wirkt. Die Ärzte verschreiben sie auf eigene Verantwortung und mit Billigung der Swissmedic, denn die Medikamente sind für Jugendliche und Kinder nicht zugelassen.
Thomas Ihde ist Chefarzt des Psychiatrischen Dienstes Interlaken BE. Ein Grund für die Zunahme des Psychopharmaka-Absatzes könnte für ihn sein, dass es in der Schweiz zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater gibt.
Die Folgen für die Kinder können fatal sein. Studien zeigen: Schlucken diese Patienten Neuroleptika, droht nicht nur wie bei den Erwachsenen Fettsucht, sondern auch Diabetes. Zudem sind die Jungen ebenfalls anfällig für Herzprobleme und Krebsleiden. Psychiater Ihde hält es deshalb für «sehr fragwürdig», Kindern und Jugendlichen die Pillen zu geben. Ihde: «Vor allem, weil über längerfristige Folgeschäden bei diesen Patienten zu wenig bekannt ist.»
«Die Tabletten verändern die Persönlichkeit»
Der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Piet Westdijk geht noch einen Schritt weiter. Er vergleicht Neuroleptika mit einer «chemischen Operation» am Hirn, die die Persönlichkeit verändert.
Psychiater Wulf Rössler leitet an der Universitätsklinik Zürich das Früherkennungsprogramm. Er bestätigt zwar, dass Jugendliche «in extrem seltenen Fällen» Neuroleptika schlucken. Aber erst, wenn alle anderen Therapien versagt hätten. Und höchstens, «um eine Situation kurzfristig zu überbrücken», sagt Rössler. Zum Beispiel, wenn dem Jugendlichen der Ausschluss aus der Schule drohe und die Lage kurz davor stehe, zu eskalieren. Rössler will aber keine konkrete Zahlen zur Anzahl betroffener Schüler nennen.
Auch Menschen mit Demenz erhalten immer öfter Neuroleptika verschrieben. Gemäss britischen und norwegischen Studien wenden rund 30 Prozent der Pflegeheime in Europa diese Medikamente an, um ihre betagten Patienten ruhigzustellen. «In der Schweiz verwenden 400 bis 500 Alters- und Pflegeheime bei rund einem Drittel der Bewohner unnötigerweise Neuroleptika.» Das schrieb 2011 die Fachzeitschrift «Curaviva». Bei Patienten, die nicht mehr selbständig entscheiden können, erhalte gar jeder zweite die Psychopillen: «Die Schweiz liegt damit im internationalen Vergleich an der Spitze – vor Kanada, den USA und Japan.»
Solian-Hersteller Sanofi-Aventis schreibt, ihre Neuroleptika seien seit langem auf dem Markt. In den letzten Jahren hätten die Meldungen wegen Nebenwirkungen nicht zugenommen. Zudem werde nicht für das Medikament geworben – man fördere deshalb den Absatz bei den Ärzten nicht.
Janssen Cilag äusserst sich zurückhaltend: Wenn Risperdal und Haldol ausserhalb der vorgesehenen Krankheitsbilder verschrieben würden, sei alleine der behandelnde Arzt verantwortlich.
Und Vincent Gruntz von der Firma Eli Lilly weist darauf hin, dass Zyprexa für die Behandlung von Psychosen bei Patienten mit Demenz sowie für Jugendliche unter 18 gar nicht zugelassen sei. Die Fachinformation rate auch explizit davon ab, das Medikament bei diesen Patientengruppen einzusetzen.
Astra Zeneca schreibt, der therapeutische Nutzen und die Wirksamkeit von Seroquel sei durch viele Studien belegt und anerkannt. Die Firma habe aber nie Werbung gemacht für nicht zugelassene Anwendungen des Medikaments.
Unbestritten ist: Neuroleptika haben ihren Platz in der akuten Phase der Therapie. Asmus Finzen, Fachbuchautor und ehemaliger Leiter der Sozialpsychiatrie an der Uniklinik Basel: In akuten Phasen seien Medikamente das «Mittel der Wahl». Denn sie «befreien Patienten von ihren Wahnideen». Doch Ärzte sollten sobald wie möglich die Dosis reduzieren und prüfen, ob die Medikamente noch nötig sind. Wichtiger als Tabletten sei jedoch das Gespräch mit dem Patienten und dessen Familie. «Die gute Beziehung zum Arzt ist zentral», sagt Finzen.
Finnland setzt nicht auf Pillen – und hat Erfolg
Neue Wege beschreitet Finnland. Therapeuten beziehen die Familie des Kranken stark mit ein und geben möglichst wenig Medikamente ab. Studien zeigen: Mit dieser Art Therapie müssen Patienten deutlich weniger in psychiatrische Kliniken und können schneller wieder arbeiten. Psychiater Ihde bedauert, dass den Fachleuten in der Schweiz oft Ausbildung, Zeit und finanzielle Mittel für diese Therapie fehlen.
Ihde spricht der Patientin Katharina Abplanalp aus dem Herzen. Die Ärzte hätten sie nie nach ihren Wahnideen gefragt. «Dadurch haben sie mich mit meinen Ängsten und inneren Konflikten alleine gelassen», sagt Abplanalp. Sie ist überzeugt: «Wenn ich darüber offen hätte sprechen können, wäre es mir sehr viel besser gegangen.» Ihre Zukunft sieht sie dennoch hoffnungsvoll: Sie habe viele Bekannte, pflege Kontakte mit anderen Betroffenen und habe kürzlich eine Ausbildung abgeschlossen, um psychisch Kranke zu begleiten. Die Arbeit mache ihr Freude, denn sie spüre, dass sich die Patienten von ihr verstanden fühlen.
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Schizophrenie: Wahnideen und starke Ängste
Patienten mit Schizophrenie leiden unter Wahnideen, die schubweise auftreten und über mehrere Monat anhalten können. In einem solchen psychotischen Schub glauben viele, dass sie jemand verfolgt und bedroht. Einige Betroffene hören Stimmen, die ihnen befehlen, sich oder anderen etwas anzutun, manche sehen Personen oder Wesen, die nicht existieren. Patienten leiden oft unter starken Ängsten, ziehen sich zurück oder rasten aus. Ihnen bleibt oft kein anderer Ausweg als die Psychiatrische Klinik – und Medikamente. Dies nicht selten ein Leben lang.
In der Schweiz sind rund 75 000 Menschen betroffen, die Ursachen sind bis heute unklar. Umweltfaktoren und Fälle in der Familie erhöhen das Risiko.