Nach 45 Minuten hörte das Herz von Morena auf zu schlagen. Ihre Mutter Francesca Canino hatte während der Schwangerschaft plötzlich starke Blutungen bekommen. Dann platzte die Fruchtblase – in der 24. Schwangerschaftswoche. Das kleine Mädchen hatte keine Überlebenschance.
Francesca Canino kehrte ohne ihr Kind aus dem Spital zurück. Einen Monat lang putzte sie wie wild die Wohnung, über das Baby sprechen konnte sie nicht. Dann hatte sie doch das Bedürfnis. Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Mit ihrer Schwägerin sprach sie stundenlang über ihr totes Kind, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. «Jedes Mal, wenn ich über Morena sprach, ging der Schmerz ein klein wenig zurück.» Es dauerte jedoch ein Jahr, bis er merklich nachgelassen hatte. «Ich denke dennoch an jedem Geburtstag von Morena an sie und werde traurig.»
Antidepressiva für Trauernde: «Habakuk»
Canino trauerte um ihr Kind, wie das jede Mutter tun würde. Doch in den USA wäre sie ein Fall für den Psychiater: Wenn Trauer-Symptome wie Apathie, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Traurigkeit und Appetitmangel länger als zwei Wochen anhalten, gilt die betroffene Person als depressiv und damit krank. Das will ein neuer Entwurf des Diagnose-Handbuchs der psychischen Krankheiten, das «DSM-5». Es soll nächstes Jahr in Kraft treten. Das Handbuch gibt die US-amerikanische Psychiater-Vereinigung APA heraus. Es beschreibt alle psychischen Störungen und Krankheiten. Das Buch hat Einfluss: Kliniken, Ärzte und Krankenkassen in der ganzen Welt berufen sich darauf.
Doch Schweizer Experten kritisieren den Entwurf scharf: Von «Habakuk» spricht Hans Kurt von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: «Trauer ist keine Krankheit.»
Zwei Wochen nach dem Verlust einer nahestehenden Person habe niemand die Trauer beendet. Man brauche mindestens zwei bis drei Monate, bis man eine Krise wie den Tod eines nahestehenden Menschen oder eine Trennung einigermassen verarbeitet habe – ohne dass man deswegen krank sei.
Daniel Hell ist leitender Arzt an der Privatklinik Hohenegg in Meilen ZH und ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. Er findet die Aussage im Diagnose-Handbuch «sehr problematisch»: «Einen normalen und wichtigen Verarbeitungsprozess macht man so zu einer Krankheit.»
Grosse Profiteurin des neuen Handbuchs ist die Pharma-Industrie. Experten schätzen, dass sie auf diese Weise mit einem Schlag mehrere Millionen neue Kunden für Antidepressiva bekommt. Der Druck auf Behörden und Krankenkassen steigt, für Trauernde Medikamente zu bezahlen. Kommt hinzu: Fachleute kritisieren, die Industrie hätte beim «DSM-5» kräftig mitgemischt. Die US-Bürgerrechtsbewegung Citizens Commission on Human Rights International schätzt: Gegen 70 Prozent der am Handbuch mitarbeitenden Experten hätten finanzielle Verbindungen zur Pharma-Industrie. Auf ähnlich hohe Zahlen kommen die Psychiaterin Lisa Cosgrove von der Harvard Universität sowie der Physiker Sheldon Krimsky von der Tufts Universität, beide in Boston (USA). Obwohl man schon in den vergangenen Jahren solche Missstände aufgedeckt habe, sei es nicht besser geworden, klagen sie im Fachblatt «New Scientist».
Daniel Hell sagt: «Die Pharma-Industrie hat längst gemerkt, dass sie profitiert, wenn Diagnosen ausgeweitet und populär gemacht werden.» Auch Hell zweifelt keinen Moment, dass mit dem neuen Handbuch Ärzte mehr Medikamente verschreiben: «Schon heute behandelt man viele Trauernde in Alters- und Pflegeheimen mit Antidepressiva», sagt er.
Trauerprozess hat vier Phasen
Dabei ist unklar, ob Antidepressiva bei Trauer überhaupt helfen. Die Medikamente wirken auf gewisse Botenstoffe im Gehirn, die bei einer Depression aus dem Lot sind. Hat man keine Depression, helfen auch die Pillen nicht.
Die Fachleute sind sich einig: Trauer gehört zum Menschen wie Lachen und Weinen. Denn die Trauer habe einen Sinn. Die Psychologin Verena Kast beschreibt die Trauer in vier Phasen:
- Die Angehörigen wollen das Ereignis zuerst nicht wahrhaben. Diese Phase kann Stunden oder Tage dauern.
- Dann brechen die Gefühle auf: Schmerz, Angst, Wut, Schuldgefühle. Oft beginnt in dieser Phase die Suche nach Schuldigen.
- Betroffene beginnen, den Verlust zu akzeptieren.
- Schliesslich fangen Hinterbliebene an, sich neu zu orientieren.
Von einer Krankheit könne man erst dann sprechen, sagt Psychiater Hell, wenn dieser Trauerprozess gestört sei. Das ist etwa dann der Fall, wenn Trauernde den Verlust zu lange nicht wahrhaben wollen oder in einer anderen Trauerphase steckenbleiben.
Auch wenn jemand die Trauerphase abgeschlossen hat, ist der Verlust nicht vergessen: Neun Monate nach dem Tod von Morena war Francesca Canino wieder schwanger – Fabiana kam gesund zur Welt. Die heute zweifache Mutter sagt: «Morena gehört in unsere Gespräche und in unser Leben, auch wenn wir wissen, dass sie tot ist.»
TIPPS: Das hilft Angehörigen
- Bekämpfen Sie die Trauer nicht, lassen Sie sie zu.
- Lassen Sie auch Ihre Gefühle zu: Schmerz, Weinen.
- Reden Sie über Ihren Verlust, mit Freunden, der Familie.
- Suchen Sie Gleichgesinnte.
- Schreiben Sie ein Tagebuch.
- Machen Sie ein Erinnerungsbuch.
- Gehen Sie ans Licht, in die Natur.
- Verwöhnen Sie sich, zum Beispiel mit gutem Essen.
- Holen Sie Hilfe, wenn Sie es nicht mehr aushalten.