Zürich-Altstetten, drei Uhr morgens im Alters- und Pflegeheim. In den hell erleuchteten Fluren ist es ruhig, ab und zu das Rauschen einer Toiletten-Spülung, schlurfende Schritte. Seit sechs Stunden ist der 45-jährige Krankenpfleger Frank Ulrich alleine im Dienst. Er sitzt im Stationszimmer und versucht, sich auf Bewohner-Dossiers zu konzentrieren, die er nachführen muss. Er spürt jetzt die Müdigkeit. Die Augenlider werden schwer. «Um diese Zeit schaffe ich kaum noch etwas, das viel Aufmerksamkeit benötigt», sagt Ulrich. Er steht auf, kocht Tee. Wartet, ob einer der Bewohner nach ihm klingelt. «Ich bin nachts dünnhäutiger und emotionaler als tagsüber. Immer freundlich zu bleiben, fällt dann schwer.» Erst um sieben Uhr morgens wird der Pfleger von seinen Kolleginnen abgelöst. Eine gute Stunde später sinkt er erschöpft ins Bett.
Immer mehr Menschen arbeiten wie Frank Ulrich in der Nacht. In Tankstellen-Shops klingeln die Kassen. In Bars und Clubs stampft die Musik und Mixbecher wirbeln durch das flirrende Disco-Licht. Die Schweissgeräte der Gleisarbeiter erhellen für kurze Augenblicke die Nacht.
«Die Leute wollen rund um die Uhr Dienstleistungen»Die Anzahl der Nachtarbeiter steigt: 2001 waren es in der Schweiz noch rund 494 000 Personen. Heute arbeiten bereits 568 000 regelmässig oder zumindest manchmal nach Mitternacht. Zugenommen hat die Nachtarbeit vor allem im Dienstleistungsbereich, sagt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco): «Die Lebensgewohnheiten haben sich verändert», sagt Christiane Aeschmann vom Seco. «Heute wollen die Menschen rund um die Uhr Auskünfte und Dienstleistungen.» Das gilt zum Beispiel für Informatik, Telekommunikation, Logistik und Transport. Aber auch im Gastgewerbe, im Verkauf und im öffentlichen Verkehr wird immer häufiger bis tief in die Nacht gearbeitet. In der Industrie jedoch stagnieren die Zahlen, so das Seco.
Für die Gesundheit hat Nachtarbeit verheerende Folgen: Betroffene leiden oft an Schlafproblemen, Magen-Darm-Krankheiten oder Übergewicht. Zudem steigt ihr Risiko für Depressionen und Bluthochdruck, und sie konsumieren häufiger Alkohol und Schmerzmittel. Mediziner vermuten mittlerweile gar, dass Nachtarbeit das Krebsrisiko erhöhen könnte – zumindest bei Frauen, die jahrelang so arbeiten. Untersuchungen zeigten, dass sie häufiger an Brustkrebs erkranken.
Das internationale Krebsforschungszentrum der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Nachtarbeit deshalb als «wahrscheinlich krebserregend» ein. Sie sei ebenso riskant wie bleihaltige Farben, die Chemikalie PCB und ultraviolette Strahlen, sagen die Krebsforscher.
Der Grund: Wer regelmässig die Nacht zum Tag macht, arbeitet gegen seine innere Uhr. Denn diese wird vom Tageslicht gesteuert. Das heisst: Nachtarbeiter arbeiten, wenn der Körper auf Schlaf eingestellt ist. Und sie gehen ins Bett, wenn der Körper alle Funktionen auf wach stellt, Weckhormone ausschüttet und den Kreislauf ankurbelt. Das bringt den gesamten Hormonhaushalt und das Immunsystem durcheinander. Arbeitsmediziner Dieter Kissling aus Baden AG sagt: «An Nachtarbeit kann sich der Körper nie ganz gewöhnen.» Tagsüber sei der Schlaf nie so tief und lang wie in der Nacht. Das führe stets zu einem Schlafdefizit.
Die massiven Folgen spürte auch Alan Thompson aus Thalwil ZH. Der 28-jährige Börsenhändler arbeitete jeweils von 23 Uhr bis 8 Uhr morgens (siehe Porträts unten). Tagsüber konnte er oft nicht richtig schlafen. Die Müdigkeit machte sich immer stärker bemerkbar: Er hatte plötzlich Mühe, sich Daten, Zahlen und Namen zu merken. Dann kamen hämmernde Kopfschmerzen hinzu. Nach zwei Jahren gab Thompson die Stelle auf.
Auch die 50-jährige Barbara Rüesch schaffte ihren Vollzeitjob als Fachfrau für medizinisch-technische Radiologie eines Tages nicht mehr. Die regelmässigen Pikettdienste hatten sie ausgelaugt. Mitten in der Nacht klingelte jeweils das Telefon. Innert zehn Minuten musste sie im Spital sein. Manchmal war sie bereits eine halbe Stunde später wieder zu Hause. Aber einschlafen konnte sie dann noch lange nicht. Trotzdem musste sie am nächsten Tag wieder zeitig zum Dienst. «Durch den Schlafmangel war meine Batterie irgendwann leer», erinnert sich Rüesch. Heute arbeitet sie nur noch 20 Prozent.
Solche Berichte alarmieren nicht nur Mediziner, sondern auch die Gewerkschaften. Beat Ringger, Zentralsekretär des VPOD, hält die gesundheitlichen Risiken von Nachtarbeit für «beträchtlich», besonders für ältere Arbeitnehmer. «Es ist kein Zufall, dass im Gesundheitswesen die Mehrheit nur noch Teilzeit arbeiten kann.» Das sei eine bedenkliche Entwicklung. «Es muss doch möglich sein, bis zur Rente voll zu arbeiten, ohne davon krank zu werden», sagt Ringger.
Die Gewerkschaften sehen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch einem wachsenden Druck ausgesetzt. «In der grafischen Industrie zum Beispiel wird Nachtarbeit weiter zunehmen», prophezeit Hans-Peter Graf von der Mediengewerkschaft Comedia. Häufig könnten die Mitarbeiter eines Betriebs gar nicht wählen, ob sie Schicht arbeiten wollen oder nicht.
Fachleute empfehlen Schichtwechsel nach wenigen Tagen Wenn Nachtarbeit unumgänglich ist – wie zum Beispiel in Spitälern –, braucht es Schichtpläne, die die Gesundheit möglichst wenig belasten. Arbeitsmediziner Dieter Kissling rät: «Am besten sind Schichtwechsel nach höchstens zwei, drei Arbeitstagen.» So häuft sich nicht so ein grosser Schlafmangel an.
Zudem verträgt der Mensch es besser, wenn er von der Frühschicht in spätere Schichten wechselt als umgekehrt. Für Arbeitnehmer über 50 genüge dies allerdings nicht. Facharzt Kissling: «Ab diesem Alter steigt das Risiko für gesundheitliche Probleme. Der Betrieb sollte Betroffenen deshalb ermöglichen, auf Tagarbeit zu wechseln.»
Krankenpfleger Frank Ulrich, 45: «Im Nachtdienst bin ich dünnhäutiger und schneller gereizt. Zudem bringt die Nachtarbeit meine Blase durcheinander. Wenn ich tagsüber schlafe, plagt mich ständig Harndrang. In Zukunft möchte ich weniger Nachtdienst machen. Das ist besser für meine Gesundheit.»
Börsenhändler Alan Thompson, 28: «Zwei Jahre arbeitete ich nachts, in der sogenannten Amerika-Schicht. Ich hatte fast täglich furchtbare Kopfschmerzen. Zwischen vier und sechs Uhr früh konnte ich mich kaum wach halten. Ein paar Mal passierten mir dann Fehler, die zu grossen finanziellen Verlusten führten.»
Färberei-Arbeiter Bernhard Kuper, 37: «Durch das unregelmässige Essen und den vielen Kaffee hatte ich ständig Magenschmerzen, Sodbrennen und Durchfall. Mein Arbeitskollege hatte sogar dreimal ein Magengeschwür. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Deshalb wechselte ich den Job.»
Rotationsdrucker Hansruedi Looser, 54: «Ich vertrage die Schichtarbeit je länger, desto schlechter. Ich bin ständig müde. Richtig wach fühle ich mich nie. Bei der Arbeit reisse ich mich zusammen, aber zu Hause bin ich oft gereizt. Die Familie leidet darunter. Der Arzt riet mir: Hören Sie auf mit Schichtarbeit. Doch in meinem Beruf gibt es kaum Alternativen.»
Rat und Infos: So leben Nachtarbeiter besserWährend der Nacht: - Achten Sie auf helles Licht am Arbeitsplatz. Verwenden Sie eine Lichttherapie-Lampe.
- Essen Sie nur kleine Portionen, am besten Kohlenhydrate, Obst und Gemüse, jedoch wenig Fett.
- Trinken Sie nicht zu viel Kaffee und Cola, vor allem in der zweiten Nachthälfte.
Am Morgen:
- Tragen Sie auf dem Heimweg eine Sonnenbrille, damit das Morgenlicht Sie nicht allzu munter macht.
- Essen Sie etwas Leichtes. Gehen Sie danach bald zu Bett.
Schlafen:
- Das Schlafzimmer sollte gut abgedunkelt, kühl und ruhig sein.
- Schlafen Sie in höchstens zwei Etappen.
Beratung und Infos
- Medizinische Beratung: Klinik für Schlafmedizin, Badstr. 33, 5330 Bad Zurzach, www.schichtarbeit.ch.
- Adressen von Arbeitsmedizinern finden Sie im Ärzteindex unter www.doctorfmh.ch. Fachgebiet «Arbeitsmedizin» wählen.
- Arbeitsrechtliche Beratung bei Ihrer Gewerkschaft.
- Broschüre: «Pausen und Ernährung» für Schichtarbeiter, zum Herunterladen unter www.seco.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Broschüren.