Eigentlich habe sie in allen Schulfächern Mühe, sagt Sabrina Grüter (Name geändert), «ausser im Französisch». Schon zu Beginn der Primarschule gehörte sie meist zu den Langsamsten. Seit der fünften Klasse braucht Sabrina Nachhilfestunden. Heute ist sie 14 Jahre alt und in der achten Klasse. Sie möchte gerne eine KV-Lehre machen. Aber es ist nicht sicher, ob ihre Noten dafür ausreichen werden. Ihre Mutter stand lange Zeit vor einem Rätsel. «Manchmal habe ich das Gefühl, Sabrina hat etwas begriffen, etwa in Mathematik. Aber ein paar Tage später ist es wieder wie weggewischt. Sie muss wieder von vorne anfangen.»
Als Sabrinas Mutter vor ein paar Wochen einen Zeitungsartikel las, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. «Da stand, dass zu früh geborene Kinder später oft Probleme in der Schule haben.»
Zwar kam Sabrina nur drei Wochen zu früh auf die Welt. Laut gängiger Definition war sie demnach keine Frühgeburt, wenn auch knapp. Allerdings wog sie nur gerade 1700 Gramm. Das ist rund die Hälfte des normalen Geburtsgewichts. Fachleute sprechen in solchen Fällen von einer «Mangelgeburt». Solche Kinder haben später oft mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie zu früh geborene. Das können ausser Lernproblemen auch körperliche Beschwerden sein. Einige leiden an Asthma, andere sind weniger geschickt mit den Händen oder hinken leicht. Auch psychische Probleme wie Depressionen oder Ängste kommen öfter vor.
«Bestimmte Areale im Hirn waren kleiner»
Den Grund sehen Fachleute in der Hirnentwicklung. Laut Regula Everts, Kinderpsychologin am Berner Inselspital, entwickelt sich das Gehirn vor allem in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft. «Wenn das Kind nicht im Bauch der Mutter heranreifen kann, sondern schon auf der Welt ist, muss das unreife Hirn mehr Sinneseindrücke verarbeiten.»
Die Folgen seien auch nach vielen Jahren noch feststellbar, so Everts: «Wir haben Frühgeborene untersucht, als sie zwölf Jahre alt waren. Bestimmte Areale im Hirn waren kleiner als bei anderen Kindern.» Allerdings hätten längst nicht alle dieser Kinder im Alltag Probleme, so Everts: «Das Hirn kann vieles ausgleichen.»
Im Normalfall dauert eine Schwangerschaft 37 bis 41 Wochen. Doch letztes Jahr kam in der Schweiz 1 von 16 Kindern früher zur Welt, nämlich zwischen der 32. und der 36. Schwangerschaftswoche. Studien zeigen, dass unter diesen Kindern etwa jedes vierte mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen hat.
Etwa eins von hundert Kindern kommt sogar noch früher zur Welt. Von diesen Kindern sind noch mehr betroffen. Dieter Wolke, Spezialist für Frühgeborene an der Universität Warwick (GB): «Etwa die Hälfte bis zwei Drittel dieser Kinder werden später eingeschult oder wiederholen eine Klasse.»
Die Statistik zeigt zudem: In der Schweiz kommen immer mehr Kinder zu früh zur Welt. Dies habe zwei Gründe, so Regula Everts: «Die Mütter werden immer älter, und wegen künstlichen Befruchtungen kommt es immer öfter zu Mehrlingsgeburten.» Beides erhöhe das Risiko für eine Frühgeburt. Kommt dazu: Dank Fortschritten in der Medizin überleben heute mehr Frühgeborene als noch vor einigen Jahren. Das gilt ganz besonders für sehr früh geborene Kinder, die 1500 Gramm oder noch weniger wiegen. Für Everts ist klar: «Wir müssen Therapien und Trainings zur Hand haben, um diese Kinder optimal zu fördern.»
«Salome ist bis heute rasch verunsichert»
Miriam Kaenel ist Psychologin und betreut Familien mit Frühgeborenen. Sie kennt sich aus, denn ihre beiden Kinder kamen zu früh zur Welt. Die Tochter wog bei der Geburt nur gerade 750 Gramm. Schon als Kleinkind war Salome ängstlich, litt unter Trennungsangst, «manchmal fast panisch», wie sich die Mutter erinnert. Auch heute noch, mit 18 Jahren, sei sie rasch verunsichert und leide an Ängsten – etwa davor, schlimm krank zu werden. Für Miriam Kaenel ist klar: «Die Frühgeburt hat im Hirn Spuren hinterlassen.»
Auch ihr Sohn, der heute 12-jährige Noe, kam zu früh zur Welt. Als Kleinkind war er unruhig und ständig in Bewegung, doch das legte sich mit der Zeit. Noe und Salome leiden zudem an starkem Asthma. In der Schule gehe es aber beiden gut, so die Mutter: «Salome macht eine Fachmittelschule, Noe geht in die Sek – da haben wir riesiges Glück gehabt.»
Der Elternverein Känguru bietet Austausch mit anderen Familien: Miriam Kaenel, Tel. 032 641 33 58 oder www.fruehgeborene.ch
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