Schweizer Ärzte röntgen viel häufiger als früher. Das zeigt ein Bericht des Bundesamts für Gesundheit. 1998 waren es noch 1350 Untersuche pro 1000 Einwohner – zehn Jahre später bereits 1700. Dazu gehören zum Beispiel das regelmässige Röntgen beim Zahnarzt, die Mammografie, um Brustkrebs zu erkennen, oder die Computertomografie, die den Körper von allen Seiten mit Röntgenstrahlen durchleuchtet.
Die Anzahl Untersuche stieg in vielen Bereichen (siehe Grafik rechts). Auffallend dabei: Neben dem Messen der Knochendichte nahmen vor allem die Computertomografien (CT) stark zu – auf mehr als das Doppelte. Dieser Untersuch belastet den Körper mit besonders viel Röntgenstrahlung. Die Dosis bei einer Computertomografie des Brustkorbs ist 250 bis 300 Mal so hoch wie beim Röntgen.
Computertomografien wären oft nicht nötig
Die Schweiz gehört zu den Spitzenreitern beim Verordnen von Computertomografien: Im Schnitt bekommt jeder zehnte Einwohner pro Jahr einen solchen Untersuch. In Kanada, den Niederlanden, Dänemark oder Frankreich sind es nicht mal halb so viele. Das zeigen die Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD.
Doch: Ein grosser Teil der Computertomografien wäre gar nicht nötig. Fachleute gehen davon aus, dass fast die Hälfte nicht gerechtfertigt ist. Dies haben Studien aus Schweden, Finnland und den USA gezeigt. Reto Treier, Strahlenexperte beim Bundesamt für Gesundheit BAG, sagt: «In der Schweiz ist die Situation wohl ähnlich.»
Viele Patienten werden unnötig mit den schädlichen Röntgenstrahlen belastet. Das zeigt auch eine kleine Strassenumfrage des Gesundheitstipp. Die 31-jährige Franziska Garbe aus Zürich musste sich beim Zahnarzt röntgen lassen: «Das wäre nicht nötig gewesen.» Denn die gleichen Bilder habe sie schon ein Jahr zuvor machen lassen. «Ich hatte die Bilder bloss nicht dabei.»
Auch der 73-jährige Christian Brügger aus Zumikon ZH ärgerte sich über die vielen Röntgenaufnahmen: «Nach einer Darmoperation hat der Arzt so viele Bilder gemacht, dass ich reklamiert habe.» Rund zwanzig seien es gewesen.
Schäden sind schon bei kleinsten Dosen möglich
Röntgenstrahlen können die Erbsubstanz in den Zellen schädigen. Dadurch steigt das Risiko für Tumoren. Christoph Heyer, Radiologe an der Universitätsklinik Bochum, sagt: «Es gibt keinen unteren Grenzwert, bei welchem man Schäden ganz ausschliessen kann.» Darauf weisen auch immer mehr Studien hin: Selbst kleinste Mengen dieser Strahlen können dem Körper schaden, wie zum Beispiel beim Röntgen der Zähne. Solche Aufnahmen macht der Zahnarzt bei vielen Patienten alle zwei Jahre – oft aus Routine. Die Bilder sollen helfen, Karies zu erkennen. Rund 5,5 Millionen solcher Aufnahmen machen Zahnärzte in der Schweiz Jahr für Jahr. Dabei haben viele Patienten Bedenken. Franziska Garbe: «Ich habe nicht das beste Gefühl beim Röntgen.» Auch der 34-jährige Matthias Borer aus Hegglingen AG sagt: «Es ist wie eine Pflichtübung. Man macht es zwar nicht gerne, aber es muss einfach sein.»
Eine neue Studie aus den USA kommt jetzt zum Schluss: Röntgt man die Zähne sehr oft, kann das Risiko für bestimmte Arten von gutartigen Hirntumoren steigen, den sogenannten Meningeomen. Sie entstehen, wenn Zellen der Hirnhaut entarten. Studienleiterin Elizabeth B. Claus von der Yale Universität: «Wer jedes Jahr oder häufiger die Zähne röntgen lässt, hat ein bis zu doppelt so grosses Risiko für Meningeome als jene mit weniger Röntgenaufnahmen.» Und: Das Risiko steigt auf fast das Fünffache, wenn der Zahnarzt bei Kindern unter zehn Jahren ein Panoramaröntgen macht. Bei dieser Methode werden sämtliche Zähne auf einem einzigen Bild abgebildet. Claus und ihr Team hatten für die Studie rund 1400 Patienten mit einem Meningeom und fast ebenso viele gesunde Personen befragt. Claus betont, dass es keinen Grund zur Panik gebe. Sie fordert Patienten aber auf: «Besprechen Sie mit Ihrem Zahnarzt, ob es nicht mit weniger Röntgenbildern geht.»
Viele Zahnärzte wiegeln nach wie vor ab
Schon früher wiesen Studien auf einen Zusammenhang von Zahnröntgen und Hirntumoren hin. So listete die deutsche Fachzeitschrift «Strahlentelex» 2009 fünf Untersuchungen auf, die einen solchen Zusammenhang nahe legen – sowohl bei gutartigen wie bei bösartigen Hirntumoren. Das Fazit der Autoren: «Spätschäden nach diagnostischem Röntgen sind real und konkret nachgewiesen.» Zudem seien auch gutartige Tumoren «alles andere als harmlos», insbesondere im Bereich des Kopfs.
Doch viele Zahnärzte wiegeln weiterhin ab, wenn es um die Strahlenbelastung durch das Zahnröntgen geht. In der Röntgen-Broschüre der schweizerischen Zahnärztegesellschaft heisst es, die Strahlendosis sei nur «gering». Die «natürliche Strahlenbelastung aus Weltall, Erde, Nahrung» sei viel höher.
Zwar beträgt die Strahlenbelastung bei einem seitlichen Zahnröntgen tatsächlich nur 0,01 Millisievert, die natürliche Strahlung hingegen rund 2,5 Millisievert. Doch diese verteilt sich auf ein ganzes Jahr und konzentriert sich nicht auf den kurzen Moment des Röntgens. Pro Sekunde beträgt die natürliche Strahlung gerade noch ein paar Milliardstel Millisievert.
Laut Michael Bornstein, Leiter der zahnärztlichen Radiologie an der Klinik für Oralchirurgie der Uni Bern, ist es nicht sinnvoll, bei allen Patienten im gleichen zeitlichen Abstand der Kontrolltermine zu röntgen. «Der Zahnarzt muss individuell abschätzen, wann ein Röntgen angezeigt ist.» Bei einem gesunden Erwachsenen ohne Füllungen brauche es kein Röntgen. Auch bei Patienten, die schon länger keine Karies mehr hatten und ihre Zähne sehr gut pflegen, könne man mehrere Jahre zuwarten. Habe jemand einen «Problemzahn» oder aktuell vermehrt Karies, müsse man öfter röntgen.
Mehr Krebsfälle nach Computertomografien
Bei vielen Röntgen-Untersuchen bekommt der Körper noch weit grössere Strahlenmengen ab als beim Zahnarzt. Bei der Lendenwirbelsäule sind es 1,3 Millisievert. Für ein Bild der Magen-Darm-Passage gar 15 Millisievert. Bei Computertomografien beträgt die Strahlenbelastung gar bis zu 25 Millisievert und mehr (vgl. Tabelle). Zum Vergleich: Menschen, die mit Strahlen arbeiten, dürfen an ihrem Arbeitsplatz höchstens einer Dosis von 20 Millisievert ausgesetzt sein – und zwar im ganzen Jahr.
Schon eine einzige Computertomografie der Herzkranzgefässe bei einem 40-Jährigen erhöht dessen Risiko, an Krebs zu erkranken. Das ergab eine Studie aus Korea und den USA. Männer bekamen durch die Strahlung öfter Lungenkrebs oder Leukämie, Frauen erkrankten häufiger an Brustkrebs. In den USA berechneten Fachleute, dass rund 2 von 100 Krebsfällen auf das Konto der Computertomografie-Strahlen gehen. Auf die Schweiz übertragen sind dies rund 700 Krebskranke pro Jahr. Zwei Drittel davon sind Frauen, denn bei ihnen richten die Strahlen leichter Schäden an.
Riskant sind Computertomografien vor allem auch bei Kindern. Der Basler Krebsarzt Claudio Knüsli: «Kinder reagieren besonders empfindlich auf die Strahlung.» Die Folge: Kinder bekommen häufiger Hirntumoren oder Leukämie. Das ist das Resultat einer grossen Studie aus Grossbritannien, die das Fachblatt «Lancet» kürzlich veröffentlichte. Wissenschafter Mark Pearce von der englischen Universität Newcastle und sein Team untersuchten die Krankengeschichten von 180 000 britischen Kindern. Schon zwei bis drei Computertomografien mit einer Dosis von rund 30 Millisievert genügten, um das Risiko für Leukämie zu verdreifachen. Mit einer Dosis von rund 60 Millisievert bekamen drei Mal so viele Kinder einen Hirntumor.
Statistisch erkranken in den USA jährlich 2500 Menschen an Krebs, weil sie in der Kindheit in den Computertomografen mussten. «Solche Zahlen sind sehr beunruhigend», sagt Claudio Knüsli. Er ist überzeugt, dass man das Krebsrisiko durch Computertomografie bisher deutlich unterschätzt hat – «besonders bei Kindern und Jugendlichen».
MRI und Ultraschall als Alternativen
Doch die Patienten können selber etwas beitragen, um ihre Strahlenbelastung zu vermindern (siehe den Tipp-Kasten links). Krebsarzt Knüsli rät, beim Arzt nachzufragen, ob es Alternativen gebe. Dazu gehören zum Beispiel Ultraschall oder MRI (Magnetresonanztomografien). Diese Verfahren haben keine schädlichen Strahlen.
Patienten können zudem einen Röntgenpass führen. Das Dokument ist bei der SPO Patientenschutz erhältlich. Darin lassen die Patienten von ihren Ärzten und Zahnärzten sämtliche Röntgenbilder und Computertomografien eintragen. Das verhindert, dass Untersuche unnötig wiederholt werden.
TIPPS: So senken Sie die Strahlenbelastung
- Lassen Sie sich jedes Mal genau erklären, warum der Arzt röntgen will.
- Fragen Sie, ob es eine strahlungsfreie Alternative gibt wie Ultraschall oder MRI.
- Fragen Sie, ob das Röntgenbild einen Einfluss auf die Therapie hat. Wenn nicht, kann man darauf verzichten.
- Nehmen Sie bereits vorhandene Röntgenbilder mit, wenn Sie zu einem neuen Arzt gehen.
- Führen Sie einen Röntgenpass, in welchem alle Aufnahmen verzeichnet sind. Er ist für Fr. 8.– erhältlich bei SPO Patientenschutz, www.spo.ch, Tel. 044 252 54 22.