Mit Vitamin-D-Präparaten machen Pharmafirmen glänzende Geschäfte. Letztes Jahr verkauften sie in der Schweiz 1,7 Millionen Packungen. Acht Jahre vorher waren es erst 230 000. Das teilt der Branchenverband Interpharma mit.
Die Hersteller kurbeln den Absatz mit Alarmbotschaften an. Die Firma Wild Pharma zum Beispiel schreibt in einem Werbetext, der empfohlene Tagesbedarf an Vitamin D könne über Nahrungsmittel «nicht ausreichend gedeckt» werden. Deshalb drohe die Gefahr von Osteoporose. Der deutsche Mediziner Jörg Spitz behauptet, Vitamin D helfe auch gegen Herzinfarkt, Krebs und Depressionen. Doch neun von zehn Menschen hätten zu wenig davon. Auch die Ärztin Heike Bischoff-Ferrari von der Universität Zürich singt das Vitamin-Loblied. Es sei eine «wertvolle und belegte Strategie in der Prävention von Stürzen und Hüftbrüchen». Ihre Vitamin-Studien sind zum Teil von Herstellern finanziert, wie Bischoff-Ferrari gegenüber dem Gesundheitstipp einräumt.
«Der Beweis für den Nutzen ist schwach»
Die Folge des Vitaminrummels: Immer mehr Menschen verlangen von ihrem Hausarzt, den Vitamin-D-Spiegel zu testen. Das beobachtet der Zürcher Hausarzt Thomas Walser in seiner Praxis. «Die Patienten sind von Medienberichten aufgeschreckt», sagt Walser.
Doch jetzt zeigt eine grosse Übersichtsstudie im renommierten «British Medical Journal»: Es gibt gar keine klaren Beweise für den Nutzen von Vitamin-D-Präparaten. Englische und US-amerikanische Forscher haben Studien zu 137 Krankheiten ausgewertet.
Dabei zeigte sich: Vitamin D verbessert weder die Knochendichte noch das Sturzrisiko von älteren Menschen. Im Gegenteil: Die Forscher fanden Hinweise darauf, dass das vermeintliche «Superhormon» das Risiko von Stürzen sogar erhöhen kann.
Auch das Risiko für Krebs, Diabetes, Arthritis, Herzkrankheiten und multiple Sklerose vermindert Vitamin D nicht. Nur auf das Geburtsgewicht und die Zähne von Kindern sowie auf die Schilddrüsen von Leberkranken hat es laut den Forschern «wahrscheinlich» einen positiven Einfluss. Die Forscher schliessen aus den gesammelten Daten: «Der Beweis für den Nutzen von Vitamin-D-Präparaten für die gesamte Bevölkerung ist schwach.»
Die neue Studie bestätigt bisherige Erkenntnisse. Wolfgang Becker-Brüser von der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» sagt: «Bereits früher zeigten Studien, dass Vitamin D alleine keinen Effekt auf Knochenbrüche hat.» Der Arzt Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», sagt, es seien bessere Studien nötig. Es sei unklar, ob Vitamin D neben den behaupteten positiven Wirkungen auch schädliche Nebenwirkungen habe, «zum Beispiel für das Herz». Für den Präventivmediziner David Fäh von der Universität Zürich zeigt die neue Übersichtsstudie, dass Vitamin D kein Wundermittel ist. «Hätte es wirklich einen grossen Einfluss auf die Gesundheit, würde man von den bisherigen Studienergebnissen stärkere und einheitliche Beweise erwarten.»
Einfluss von Alterung und Entzündungen
Zweifel an der Hypothese vom Vitamin-D-Mangel nährte auch eine andere Studie Ende letzten Jahres. Sie zeigte, dass ein niedriger Vitamin-D-Spiegel im Körper möglicherweise gar nicht krank macht, sondern die Folge von Krankheiten ist. Der französische Forscher Philippe Autier vom International Prevention Research Institute in Lyon ist einer der Autoren der Studie. Laut Autier senken Entzündungen und die Alterung des Körpers den Vitaminspiegel. Das könne erklären, warum viele kranke Menschen wenig Vitamin D haben.
Philippe Autier kritisiert, viele Ärzte liessen sich zu stark von den Werbebotschaften der Pharmaindustrie beeinflussen. Sie hätten das Märchen vom Vitaminmangel unkritisch übernommen. Doch für Fachleute ist schon seit Jahren klar: Nur gebrechliche Senioren, die nicht regelmässig ins Freie gehen können, profitieren von Vitamin-D-Zusätzen (siehe Ausgabe 2/2012).
Die Firma Burgerstein schreibt in einer Stellungnahme, noch sei zu wenig bekannt über die Wirkung von Vitamin D. Für gesunde Knochen sei nicht nur Vitamin D nötig, sondern auch Kalzium, Magnesium und viele andere Nährstoffe. Die Pharmafirma Dr. Wild & Co entgegnet, mehrere Forschungsarbeiten seien zu einem anderen Schluss gekommen als die neue Übersichtsstudie. Vitamin D sei die einzige Substanz, die vor Rachitis bei Kleinkindern schütze. Allerdings kommt die Übersichtsstudie zum Schluss, dass es auch für den Nutzen gegen Rachitis keine Beweise gibt. Streuli Pharma schreibt, Studien hätten gezeigt, dass die tägliche Einnahme von kleineren Dosen vor Knochenbrüchen schütze. Migros sagt, die Angaben auf der Verpackung der Actilife-Vitamintabletten, dass Vitamin D gut sei für Knochen und Muskeln, seien von den Behörden genehmigt.
Tipps: So schützen Sie sich vor Osteoporose, Herzkrankheiten und Krebs
Vitamin D ist wichtig für die Knochen und Muskeln. Die Haut bildet es bei Sonnenlicht. Gehen Sie deshalb oft an die frische Luft.
- Nur gebrechliche Menschen, die nicht an die Sonne gehen können, brauchen Vitamin-D-Tropfen.
- Auch kalziumreiche Lebensmittel wie Milchprodukte und Mineralwasser helfen gegen Osteoporose.
- Viel Bewegung und eine kalorienarme Ernährung beugen Herzkrankheiten vor.
- Gegen Krebs schützen Sie sich, wenn Sie nicht rauchen, viel Gemüse und Früchte essen und Umweltgifte meiden.