Die Schweizer Bevölkerung ernähre sich ungesund. Viele bräuchten Nahrungsergänzungsmittel, um gegen Covid-19 gewappnet zu sein. Das rät eine Expertengruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE). Sie empfiehlt eine «gezielte, an die Bedürfnisse angepasste Nahrungsergänzung» mit Vitamin D, Vitamin C, Omega-3-Fettsäuren, Selen und Zink. Die Medien verbreiteten die Empfehlungen unkritisch.
Etzel Gysling, Arzt aus Wil SG, kritisiert: «Es gibt für keinen der genannten Nährstoffe genügend Hinweise, dass er das Immunsystem stärkt.» Auch Reinhard Imoberdorf, Chefarzt am Kantonsspital in Winterthur ZH, kennt keine Studie, welche belegt, dass Vitamine gegen Corona wirken. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser warnt gar davor, auf Vorrat Vitaminpillen zu schlucken. Sie könnten mehr schaden als nützen.
Nicht mal der Nutzen bei Schnupfen ist belegt
Fakt ist: Einen Beleg für die Wirksamkeit von Vitamin D gegen Corona gibt es nicht. Eine Studie in zehn EU-Staaten stellte zwar fest, dass viele Covid-19-Patienten zu wenig Vitamin D im Blut hatten. Doch das heisst nicht, dass Vitaminmangel eine Rolle spielt: Denn oft sind diese Personen auch übergewichtig oder alt. Zu viel Vitamin D kann gar Nierensteine fördern.
Auch wurde nie bewiesen, dass Vitamin C gegen das Virus wirkt. Frühere Studien zeigten gar, dass Vitamin-C-Tabletten nicht einmal Erkältungen verhindern. Sie nützen höchstens Personen, die körperlich stark belastet sind.
Dasselbe gilt für die Omega-3-Fettsäuren: Bisher konnte keine Studie zeigen, dass sie vor Erkältungen, Grippe oder Corona schützen. Die SGE-Experten empfehlen doppelt so viel Omega-3-Fettsäuren wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Omega 3 kann die Immunabwehr sogar schwächen.
Beweise für den Nutzen von Selen fehlen ebenfalls. Zudem nehmen viele Personen über die tägliche Ernährung genug davon auf. Und: Zu viel Selen kann gar Diabetes und Hautentzündungen verursachen.
Auch viele Zink-Präparate schützen nicht einmal vor Erkältungen. Wirkung zeigen allenfalls Lutschtabletten mit Zink-Acetat oder Zink-Gluconat.
Viele Experten sind mit der Industrie verbandelt
Das Irritierende: Die meisten SGE-Experten haben Bindungen zur Industrie. Der Hauptautor Manfred Eggersdorfer etwa ist Senior Vice President von DSM Nutritional Products, einem grossen Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln. Und ETH-Professor Michael Zimmermann ist der Ehemann von Tanja Zimmermann-Burgerstein, die den Vitamin-Hersteller Burgerstein führt. Experte Jörg Spieldenner war bis vor wenigen Jahren für Nestlé in der Sparte Nahrungsergänzungsmittel tätig. Und Mitautorin Heike Bischoff-Ferrari erhielt 2019 von Vitamin-D-Herstellern Forschungsgelder für eine Studie.
Chefarzt Reinhard Imoberdorf kritisiert: «Solche Interessenskonflikte sollte man deklarieren.»
Jörg Spieldenner schreibt, er sei 2018 bei Nestlé ausgeschieden und habe seither weder Leistungen für diese Industrie erbracht noch Beteiligungen daran. Heike Bischoff-Ferrari schreibt, es gebe Hinweise, dass Vitamin D das Risiko für Infekte der Atemwege senke. Solche Präparate würden das Risiko für Nierensteine nur in hohen Dosen und zusammen mit Kalzium erhöhen.
Die Gesellschaft für Ernährung hat nach den Recherchen des Gesundheitstipp eine «Berichtigung» aufgeschaltet: Nahrungsergänzungsmittel seien nur bei gewissen Bevölkerungsgruppen notwendig und nur nach Absprache mit einem Arzt. Die Offenlegung der Interessenskonflikte werde in das Dokument eingefügt, sobald diese schriftlich vorlägen.