Manchmal musste Agnes Schwarzentruber aus Eschenbach LU ganz plötzlich an einem Regal Halt suchen. Der Verkäuferin fuhr ein so stechender Schmerz durchs Knie, dass sie nicht länger stehen konnte. Die 61-Jährige litt während Jahren an starken Knieschmerzen. Zweimal unterzog sie sich einer Arthroskopie, einer Behandlung der Gelenke. Sie versuchte es auch mit Physiotherapie, mit Massage. Doch die Schmerzen blieben.
Als sie schon fast aufgegeben hatte, hörte sie über Bekannte von Shiatsu. Sie recherchierte im Internet. Meldete sich an. Nach einigen Behandlungen waren die Schmerzen beinahe verschwunden.
Shiatsu ist eine anerkannte Methode der Komplementärtherapie und stammt aus Japan. Übersetzt heisst Shiatsu «Finger-Druck». Mit tiefgehenden Berührungen sowie Dehnungs- und Rotationsbewegungen stimuliert der Therapeut die Lebensenergien so, dass sie wieder ins Gleichgewicht geraten. Oder wie es Peter von Blarer, Leiter der Heilpraktikerschule Luzern, sagt: «Shiatsu hilft, wieder im Körper zu Hause zu sein.»
Shiatsu wurzelt in der fernöstlichen Medizintradition. Die Therapeuten gehen davon aus, dass die Lebensenergie im Körper in Leitbahnen fliesst, in den sogenannten Meridianen. Statt nur körperliche Beschwerden zu behandeln, therapieren sie den Menschen in seiner Ganzheit aus Körper, Seele und Geist. Bei der Behandlung benutzt der Therapeut Daumen, Handflächen, Ellbogen und Knie, während der Klient bekleidet auf einer Matte am Boden liegt.
Shiatsu fand Ende der 70er-Jahre den Weg nach Europa. 2004 gab es in der Schweiz rund 800 registrierte Shiatsu-Therapeuten, 2014 waren es fast 1400. Shiatsu biete sich bei chronischen und akuten körperlichen Beschwerden an, aber auch bei seelischen Belastungen, bei Stress, Lebenskrisen und Traumen. Das sagt Sabine Bannwart, Vorstandsmitglied der Shiatsu-Gesellschaft Schweiz und selber Shiatsu-Therapeutin. Beispiele sind: Migräne, Nacken- oder Schulterschmerzen, Schlafstörungen und Wechseljahrbeschwerden.
Bei diesen Beschwerden können auch andere Formen der Komplementärtherapie helfen (siehe Tabelle): etwa die Akupressur, eine Druckpunktbehandlung der Akupunkturpunkte. Oder Tuina, eine vielseitige Massageform, bei der die Akupressur nur einen Teil ausmacht. Und bei der Thai-Massage liegt man wie beim Shiatsu bekleidet auf einer Matte am Boden.
«Diese Therapieformen können bei jeweils ähnlichen Beschwerden wie Stress, Rückenschmerzen oder Haltungsfehlern zum Zuge kommen. Unterschiede gibt es lediglich bei der Behandlungsdauer und der angewendeten Technik», sagt die Sprecherin des Erfahrungsmedizinischen Index EMR. Jede Person müsse selber herausfinden, welche Therapieform ihr am besten tue.
Sind die jeweiligen Therapeuten von den Krankenkassen anerkannt, tragen die meisten Zusatzversicherungen einen grossen Teil der Kosten. Im Gegensatz zu Wellnessmasseuren, die oft in Abendkursen ausgebildet werden und unter anderem auch Lomi-Lomi-, Hot-Stone- oder Kräuterstempelmassagen anbieten, dauert die berufsbegleitende Ausbildung zum von Krankenkassen anerkannten Shiatsu-Therapeuten mindestens drei Jahre.
Die Wirksamkeit von Shiatsu zu erforschen, ist nicht einfach: Anders als bei Medikamenten lassen sich keine Placebo-Studien durchführen. Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass Shiatsu wirken kann. Andrew Long, Leiter der School of Healthcare der Universität Leeds, führte 2007 eine Befragung von über 600 Personen durch. Die grosse Mehrheit gab an, Shiatsu habe ihre Symptome abgeschwächt, und sie hätten mehr Ruhe und Entspannung gefunden.
Auch Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser verschreibt Shiatsu Patienten, die bereits gute Erfahrungen damit gemacht haben. Pia Fankhauser, Vizepräsidentin des Schweizer Physiotherapie Verbands, schränkt ein: Shiatsu sei dann sinnvoll, wenn keine ernsthaften Beschwerden vorliegen.
Urs Gamper, Cheftherapeut im Rehabilitationszentrum Valens GR, ist als Vertreter der Schulmedizin kein Spezialist dieser Methode. Dennoch kann er sich eine positive Wirkung vorstellen: Sanfte Bewegungen und Druck führten zu Stoffwechselveränderungen. Das führe häufig zu Schmerzlinderung, zu einer besseren Beweglichkeit und zu besserem Wohlbefinden.
Zweieinhalb Jahre nach ihrer ersten Shiatsu-Behandlung plagt Agnes Schwarzentruber das Knie nur noch bei plötzlichen Wetterwechseln. Und falls die Schmerzen doch wieder stärker würden, liesse sie sich erneut behandeln.