Mangel an Vitamin D sei in der Schweiz «ein dringendes Problem». Das sagte vor kurzem Altersforscher Reto W. Kressig in einem ganzseitigen Interview in der Ärztezeitung «Medical Tribune». Kressig warnt, 80 Prozent der Senioren und die Hälfte der jüngeren Menschen hätten zu wenig Vitamin D. Ältere Patienten sollten demnach «lebenslang» Präparate einnehmen. Kressig ist Direktor der Universitären Altersmedizin Felix Platter in Basel. Pikant: Die OM Pharma Suisse bezahlte die Publikation des Interviews. Die Pharmafirma stellt ein Vitamin-D-Präparat her.
Auch die Zürcher Altersforscherin Heike Bischoff-Ferrari empfiehlt Vitamin D. Sie vermutet sogar, dass man mit Präparaten den Verlauf von Covid-19 lindern könne (Gesundheitstipp 11/2020).
Das irritiert. Denn Bischoff-Ferrari und Kressig widerlegten den Nutzen von Vitamin D vor kurzem in einer Studie gleich selber. Sie hatten während drei Jahren 2000 gesunde Personen ohne Mangel des Vitamins untersucht. Die einen bekamen Präparate mit Vitamin D, andere ein Scheinmittel. Resultat: Die Vitaminpräparate konnten weder den Blutdruck noch die Infektionsraten verbessern. Sie hatten auch keinen Einfluss auf Knochenbrüche. Die Studie erschien im Fachmagazin «Journal of the American Medical Association». Beteiligt waren zahlreiche Mitautoren.
Auch gegen Krebs nützt das Vitamin nicht
Laut Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin am Unispital Zürich, ist der Nutzen von Vitamin D bei Gesunden überbewertet. Unzählige Studien hätten gezeigt, dass es ihnen nichts bringt. So zeigte eine weitere Studie von US-Forschern mit 25000 Teilnehmern, dass Vitamin D auch das Krebsrisiko nicht senkte.
Vitamin-D-Präparate braucht man nur, wenn man einen nachgewiesenen Mangel hat. Kressig sagt in der «Medical Tribune», der Vita-min-D-Gehalt im Blut sollte mindestens 75 Nanomol betragen. Doch unabhängige Ärzte finden diesen Wert viel zu hoch. Gemäss dem Hausarzt Etzel Gysling aus Wil SG, Herausgeber der Zeitschrift «Pharma-Kritik», reichen 30 Nanomol pro Liter Blut aus. Je höher Ärzte den Grenzwert ansetzen, umso mehr Leute haben einen vermeintlichen Mangel. Thomas Rosemann sagt: «Ich halte derartige Schätzungen für Panikmache.»
Vitamin D tankt man am besten an der Sonne. Auch gewisse Lebensmittel enthalten überdurchschnittlich viel davon (siehe Kasten). Ein Erwachsener braucht 15 bis 20 Mikrogramm pro Tag.
Reto W. Kressig schreibt dem Gesundheitstipp, OM Pharma habe den Inhalt des Interviews nicht beeinflusst. Die Teilnehmer seiner Studie seien mehrheitlich überdurchschnittlich gesund gewesen. Deshalb hätten sie von den Vitamintropfen nicht profitiert.
Lebensmittel mit viel Vitamin D
Vitamin D nimmt man auch übers Essen auf. Folgende Lebensmittel enthalten laut dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit überdurchschnittlich viel davon (maximale Menge, in Mikrogramm pro 100 Gramm):
Hering: 25
Wildlachs: 25
Sardinen: 10
Eierschwamm: 8,5
Zuchtlachs: 6,25
Eigelb: 6,25
Ei: 5
Büchsenthon: 3,5