Ernst Sieber, glauben Sie an das Jüngste Gericht?
Nein. Denn durch Jesus Christus ist das Jüngste Gericht überwunden. Die Leute müssen sich heute täglich vor Gott verantworten. Dafür, was sie mit ihren Mitmenschen machen. Wenn du stirbst, ist die Gelegenheit vorbei, etwas zu tun oder zu lassen. Nicht das Jenseits zählt, sondern das Diesseits.
Das Jüngste Gericht kommt also bereits, wenn man lebt?
Ja. Der liebe Gott ist ein erdiger Gott. Das heisst, er ist nicht abgehoben.
Kürzlich haben Sie die Flüchtlingskrise mit dem Jüngsten Gericht verglichen.
Denken wir an das tote Kind am Strand im türkischen Bodrum. Da packt mich das Grauen. Und kurz darauf feierten wir Weihnachten. Das westliche, überkommerzialisierte Weihnachten da und der Tod eines Kindes nicht weit von uns entfernt. Kann man sich etwas Schlimmeres vorstellen?
Terror, Flüchtlingsdramen und Fremdenfeindlichkeit werden uns auch in diesem Jahr beschäftigen. Sind die Menschen heute schlechter als früher?
Nein. Aber wir haben wichtige Werte aufgegeben, die auf Jesus zurückgehen. Zum Beispiel die Menschenrechte. Und das Recht auf Freiheit.
Sind Sie ein guter Mensch?
(Sieber lacht) Das müssen Sie den lieben Gott fragen. Oder meine Mitmenschen. Ich würde sagen: Auch wenn es mir nicht immer gelingt, gut zu sein, hat Gott mich gern.
Sie wollen doch auch Flüchtlinge aufnehmen.
Ja. Ich habe den Behörden mitgeteilt, dass ich in einem Bauernhaus im Kanton Schwyz, das mir gehört, Flüchtlinge aufnehmen möchte. Dort steht ja auch mein Atelier. Der Kanton hat sich aber noch nicht gemeldet. Es scheint noch keine Not am Mann zu sein. Aber an anderen Orten, zum Beispiel im Pfuusbus, habe ich schon längst zahlreiche Flüchtlinge.
Der Pfuusbus?
Das ist ein 17 Meter langer Sattelschlepper mit elf Schlafplätzen im Bus und gegen 30 im Vorzelt. Obdachlose bekommen hier ein Abendessen und eine Unterkunft für die Nacht. Hier würde ich nie jemanden abweisen.
Würden Sie auch Menschen aufnehmen, die sich illegal in der Schweiz aufhalten?
Ja, aber das sage ich niemandem. Nicht nur das Gesetz entscheidet, sondern die jeweilige Situation der Betroffenen. Wenn jemand in Not ist und nicht mehr für sich sorgen kann, hat er Anspruch auf Unterstützung. Das steht so sinngemäss in der Bundesverfassung. Ich habe schon in den 80er-Jahren, während der Jugendunruhen, für alle die Kirchentüren geöffnet. Ausser für die Polizei. Und wenn vor meinem Bauernhaus im Ybrig plötzliche ein paar Flüchtlinge vor der Türe stünden, würde ich sie aufmachen.
Wenn selbst Sie kein guter Mensch sind, wer dann?
Sonja – meine Frau.
Warum? Was ist denn ein guter Mensch?
Einer, der Gottes Liebe und sich selber ernst nimmt. Man muss Menschen gern haben. Und Mitgefühl zeigen. Die Liebe entscheidet und nicht moralische Qualitäten. Jemand, der zum Beispiel stiehlt, ist nicht per se ein schlechter Mensch.
Was genau meinen Sie damit?
Ich zum Beispiel bin manchmal ein ganz schöner Trottel. Aber die Liebe von Sonja hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Die Liebe macht uns zu guten Menschen. Denn sie öffnet das Herz.
Also sind es die Familie und Freunde, die einen zu einem guten Menschen machen.
Ja.
Als guter Mensch muss man offensichtlich viel geben können. Muss man dazu nicht auch gesund und stark sein?
Ach, das spielt doch keine Rolle! Ich hatte schon mehrere Operationen und einen schweren Autounfall vor ein paar Jahren. Das hat mich trotzdem nicht daran gehindert, anderen zu helfen. Auch schwache Menschen können viel geben. Aber mit diesen moralischen Kategorien «gut» uns «schlecht» kommen wir nicht weiter. Was nützt es mir schon, wenn ich gut bin?
Sind gute Menschen nicht glücklicher?
Das glaube ich nicht. Das ist zu selbstbezogen. Glück ist, wenn Mitmenschen froh und aufgestellt sind.
Gewissen Menschen gibt es auch ein gutes Gefühl, wenn sie sehen, dass es anderen schlechter geht.
Das ist das falsche Motiv. Damit kann ich vor dem «Chef» nicht bestehen (er zeigt mit dem Finger nach oben). Solchen Menschen würde ich mehr Mitgefühl wünschen.
Manche Leute spenden Geld, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ist Gutes zu tun eine Art Ablasshandel?
Ja, natürlich. Gut finde ich das aber nicht. Der Ablass ist das Gegenteil von Nächstenliebe. Und erst die Nächstenliebe befreit uns.
Sollte man mehr spenden?
Mit Herz schon. Aber Geld ohne Herz ist nichts wert. Das Leben in der Gemeinschaft ist viel wichtiger. Es gibt mehr Möglichkeiten, als Geld zu verteilen.
Zum Beispiel?
Zu den Leuten gehen. Zuhören. Versuchen, andere Menschen wahrzunehmen. Wir haben eine Gabe zu kommunizieren. Die sollten wir nutzen. Es gibt viele Organisationen, wo man als Freiwilliger mit Bedürftigen in Kontakt kommen kann.
Haben Sie Ihre eigenen Bedürfnisse oft zurückgestellt, um anderen zu helfen.
Ja. Aber die vielen Menschen, denen ich geholfen habe, haben mir auch etwas geschenkt. Einmal hat ein Sterbender zu mir gesagt: Ich gehe jetzt heim. Und du auch – aber du musst aufpassen, dass du auf der vereisten Strasse nicht ausrutschst. Er hat sich während des Sterbens noch um mich gesorgt. Das ist für mich die Gegenwärtigkeit Gottes.
Vor einigen Jahren mussten Sie sich einer Operation an der Hauptschlagader unterziehen. Hatten Sie sich übernommen?
Ich habe mir stets Grenzen gesetzt. Und wenn ich die erreicht hatte, wollte ich noch mehr.
Bereuen Sie dies?
Nein. Für mich ist das eine Art Wiedergeburt. Ich überschreite die Grenze und spüre dann neue Kraft.
Wenn ich zurück könnte, würde ich einen Weg suchen, um noch weiter zu gehen. In unserer Bundesverfassung steht: Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.
Zur Person: Ernst Sieber
Schauspieler, Bildhauer, Maler oder Sänger wollte er als junger Mann werden. Seine Mutter aber wollte, dass er Bauer wird, damit er den «Boden unter den Füssen» spürt. Pfarrer wurde er auf dem zweiten Bildungsweg. Dieser Berufung ist Ernst Sieber treu geblieben. Nach dem Studium war er Pfarrer in der reformierten Kirche in Uitikon Waldegg ZH und später in Zürich-Altstetten. Während dieser Zeit baute er die Sozialwerke «Pfarrer Sieber» und weitere soziale Einrichtungen auf. Sie bieten Menschen in Not seelsorgerische, medizinische und materielle Hilfe. Heute lebt der fast 89-Jährige mit seiner Frau Sonja in Uitikon Waldegg.