Annemarie Rüegg (Name geändert) aus Schmerikon SG träumt fast jede Nacht. Weil sie ihre Träume nach dem Aufwachen aufschreibt, kann sie sich gut daran erinnern. Nicht immer sind das angenehme Erlebnisse. «Ich träumte, dass ich vor einem Unbekannten flüchte», erzählt die 51-Jährige. «Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Ich bekam richtig Angst und Panik.»
Solche Albträume haben viele Leute. Eine Studie des deutschen Schlafforschers Michael Schredl zeigte: Fast alle der 444 Studienteilnehmer träumten schon einmal davon, gejagt oder verfolgt zu werden. Schredl fand heraus, dass auch andere Traumszenen oft vorkommen. Zum Beispiel träumen viele Menschen, dass sie stürzen, fliegen, bei einer Prüfung durchfallen, zu spät kommen, sexuelle Erlebnisse haben, oder dass eine Person aus ihrem Umfeld stirbt.
Traummotive: Die Spekulationen spriessen
Manche Träume sind wirr und absurd. Der 38-jährige Patrick Kenner (Name geändert) aus Zürich sah vor einem Jahr im Schlaf, wie vor seiner Wohnung Kinder spielten. «Plötzlich fuhr ein Mann mit einem Ford Mustang auf einen Erdhaufen vor dem Haus», erinnert sich Kenner. «Ich hatte Angst um die Kinder.» In letzter Sekunde bremste er. Das Auto wäre fast umgekippt. Dann stieg der Mann aus dem Mustang aus und erhängte sich.
Die Bedeutung solcher Traummotive ist bis heute unklar. Kein Wunder, spriessen die Spekulationen. Eine ganze Branche lebt davon: die Traumdeuter. Sie behaupten zu wissen, welche versteckten Botschaften Träume enthalten.
Deutungen weichen stark voneinander ab
So listet die heute 77-jährige amerikanische Therapeutin Pamela Ball in einem über 500 Seiten dicken Buch Traumsymbole von «Adler» bis «Zwiebel» auf und erklärt, was sie bedeuten sollen. Ball schreibt zum Beispiel: Wenn jemand träumt, er stürze, bedeute dies, dass er kein Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten habe – oder dass er sich ausgeliefert fühle, «besonders sexuell». Der berühmte Psychologe Sigmund Freud war überzeugt, dass Träume verdrängte erotische Wünsche ausdrücken. In Gegenständen wie Messern, Kerzen, Zähnen oder Hüten sah Freud Symbole für Genitalien.
Der Gesundheitstipp machte die Probe: Er bat zehn Traumdeuter, oft vorkommende Traumbilder zu interpretieren. Nur gerade vier wollten sich dazu äussern (siehe Tabelle). Dabei zeigte sich: Die Deutungen weichen teils stark voneinander ab. Zum Beispiel beim Traummotiv «die Zähne fallen aus». Der Zürcher Traumdeuter Daniel Gauer schreibt: Dies bedeute, dass man Angst habe, eine nahestehende Person zu verlieren. Andrea Olujic von der Berner Life-Praxis hingegen sagt, dies deute auf einen Mangel an Energie hin.
«Träume erklären sich aus der Gegenwart»
Für den Psychologen Serge Brand von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel fehlt solchen Auswertungen «jegliche wissenschaftliche Grundlage». Sie sagen, so Brand, «mehr über die Fantasien der Deuter aus» als über die Lebensgeschichte einer träumenden Person. Und der Schlafforscher Michael Schredl sagt: «Das gleiche Motiv kann für zwei Menschen Unterschiedliches bedeuten.» Schredl hat dazu Tausende von Träumen ausgewertet.
Der deutsche Wissenschaftsautor Stefan Klein kommt in einem Buch zum Schluss, Erlebnisse in Träumen würden sich «aus der Gegenwart» erklären. «Darum ist es sinnlos, nach einer symbolischen Bedeutung der nächtlichen Bilder zu suchen.»
Darauf weisen auch Studien hin. So haben die US-amerikanischen Traumforscher Ernest Hartmann und Tyler Breezer die Traumaufzeichnungen von 44 Personen vor und nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York ausgewertet. Dabei zeigte sich: Nach dem Anschlag träumten viele Versuchsteilnehmer von gefährlichen Angriffen.
Traumdeuter Daniel Gauer entgegnet, es gebe viele Traumsymbole, die für alle Menschen dasselbe bedeuten. Die oft komplexen Traumbilder könne man nicht auf Gefühle reduzieren. Die psychosoziale Beraterin Marianne Braunschweiler sagt, die genaue Aussage von Traumsymbolen könne man nur im Gespräch mit Träumenden präzis deuten. Und für die Traumdeuterin Andrea Olujic gibt es auch Träume, in denen keine Gefühle erkennbar seien. Dann müsse man die Traumsymbole anschauen.
Unbestritten ist, dass Träume wichtig sind für die Gesundheit. Schlafforscher fanden heraus, dass man im sogenannten REM-Schlaf besonders oft träumt. «REM» ist die Abkürzung für den englischen Begriff «Rapid Eye Movement». In dieser Schlafphase bewegen sich die Augen unter den Lidern rasch hin und her. Zudem ist das Gehirn sehr aktiv. Die REM-Schlafphase wiederholt sich mehrere Mal in der Nacht, vor allem in den frühen Morgenstunden, die REM-Phasen werden dabei immer länger (siehe Grafik im PDF).
Zu wenig REM-Schlaf mindert Hirnleistung
Studien haben gezeigt: Wer immer wieder aus dem REM-Schlaf geweckt wird, wird mit der Zeit depressiv, zudem vermindern sich die Hirnleistungen, wie zum Beispiel das Gedächtnis. Eine Studie von Neurobiologen des israelischen Weizmann Institute of Science zeigte bereits 1994: Menschen mit zu wenig REM-Schlaf haben mehr Mühe, geistig anspruchsvolle Aufgaben zu erledigen.
Für den Traumforscher Ernest Hartmann helfen Träume, das seelische Gleichgewicht zu regulieren.
Das zeigen seine Untersuchungen mit Menschen, die sehr belastende Erlebnisse hatten – beispielsweise Opfer eines Gewaltverbrechens wurden. Laut Hartmann kombinieren Träume neue und alte Erfahrungen miteinander. Dies helfe traumatisierten Menschen, ihre schockierenden Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Hartmann kommt deshalb zum Schluss, dass Träume eine ähnliche Wirkung auf die seelische Gesundheit hätten wie eine Psychotherapie.
«Mein Traum war wie eine Warnglocke»
Träume geben den Betroffenen zudem Signale. Wissenschaftsautor Stefan Klein: «Im Traum werden uns Gefühle bewusst, die wir im Alltag kaum wahrnehmen.» Deshalb könnten Träume zum Beispiel den Anstoss geben, den Job zu wechseln oder die Beziehung zu anderen Menschen zu klären.
Das zeigt auch das Beispiel von Patrick Kenner. Er ist überzeugt, dass ihm der Traum mit dem Ford-Mustang-Fahrer wichtige Hinweise für sein Leben gegeben hat. «Ich arbeite in einem Callcenter», erklärt er. «Der Zeitdruck ist gross, die Arbeit monoton.» Als er träumte, der Mann bringe sich vor seinem Fenster um, sei das für ihn wie eine «Warnglocke» gewesen. Der Traum habe ihm gezeigt, dass er seinen Beruf wechseln müsse: «Sonst habe ich in zwei Jahren einen Herzinfarkt.»
Von Träumen kann das Gehirn aber nur profitieren, wenn man ungestört schlafen kann. Die Psychologin Rosalind Cartwright schrieb in einer Fachzeitschrift für Schlafmediziner: «Anhaltende Schlafstörungen führen dazu, dass der nächtliche Lernprozess und die Stimmungsregulation weniger wirksam sind oder ganz gestoppt werden.»
Gut schlafen: Entspannen hilft
Deshalb ist ein erholsamer Schlaf wichtig (siehe Buchtipp). Das richtige Verhalten am Abend trägt viel dazu bei – zum Beispiel, indem man sich entspannt mit einem Spaziergang, einem Bad oder mit Musik. Bildschirme von Computern und Handys, die relativ viel blaues Licht abstrahlen, stören hingegen die Entspannung. Auch schwere Mahlzeiten und Getränke mit Alkohol oder Koffein können den Schlaf stören. Man sollte abends darauf verzichten, wenn man Mühe hat, einzuschlafen.