"Vorher war ich nicht weniger gaga" - Reto Gamma, 50
Plötzlich konnte er nicht mehr schreiben: Letzten Herbst erlitt Reto Gamma, höchster Funktionär der SP Schweiz, einen Hirnschlag. Heute arbeitet er wieder - aber viel langsamer.
Inhalt
Gesundheitstipp 4/2004
14.04.2004
Interview: Christian Egg
Sie hatten im letzten Oktober einen Hirnschlag. Wie merkten Sie das?
Eine erste Störung hatte ich an einer Sitzung der Geschäftsleitung. Von einer Sekunde auf die andere schrieb ich nur noch Kauderwelsch auf meinem Laptop. Sprechen konnte ich aber problemlos, sodass meine Kollegen gar nichts bemerkt haben.
Gingen Sie nicht zum Arzt?
Nein. Für den Rest des Tages musste ich nicht mehr schreiben, und so habe ich die Sache verdrängt. In der Na...
Sie hatten im letzten Oktober einen Hirnschlag. Wie merkten Sie das?
Eine erste Störung hatte ich an einer Sitzung der Geschäftsleitung. Von einer Sekunde auf die andere schrieb ich nur noch Kauderwelsch auf meinem Laptop. Sprechen konnte ich aber problemlos, sodass meine Kollegen gar nichts bemerkt haben.
Gingen Sie nicht zum Arzt?
Nein. Für den Rest des Tages musste ich nicht mehr schreiben, und so habe ich die Sache verdrängt. In der Nacht bekam ich aber für einige Minuten extremes Kopfweh. Am nächsten Morgen traf ich in der Stadt eine Bekannte. Ihr fiel sofort auf, dass die linke Seite meines Gesichts gelähmt war. Ich selbst hatte das nicht bemerkt. Sie rief ein Taxi, und wir fuhren ins Spital.
Was sagten die Ärzte?
Sie stellten fest, dass mein Hirn die linke Hälfte des Gesichtsfeldes ausblendete. Wäre ich Auto gefahren und ein Kind wäre von links auf die Strasse gelaufen - ich hätte es womöglich überfahren. Das Auge hätte es zwar gesehen, aber das Hirn hätte es nicht bemerkt.
Mit der Sprache hatten Sie keine Probleme?
Mit dem Sprechen nicht, aber mit dem Schreiben. Meine ersten Mails aus dem Spital sind legendär. Sie haben so viele Tippfehler, dass man sie kaum versteht. Und ich dachte, sie seien völlig in Ordnung! Meine Stellvertreterin musste mich vor mir selber schützen: Ich durfte Mails nur noch an sie senden, und sie korrigierte sie vor dem Weiterleiten. Sonst wäre der Eindruck entstanden, ich sei völlig gaga.
Wie geht es Ihnen heute?
Die Krankheit zwingt mich dazu, langsamer zu arbeiten und zu leben. Vorher konnte ich sieben Dinge gleichzeitig erledigen und daneben noch telefonieren. Wenn ich das heute versuche, häufen sich die Fehler. Ich muss lernen, eins nach dem anderen zu tun. Das ist die grösste Herausforderung: Sich einzugestehen, dass man nicht mehr derselbe ist wie zuvor.
Wie viel arbeiten Sie?
Ich bin immer noch zu 100 Prozent krankgeschrieben. Es dauert lange, bis Hirnverletzungen heilen. Aber nach sechs Wochen Therapie im Spital sagten mir die Ärzte: Die beste Therapie ist jetzt ein Arbeitsversuch. Deshalb darf ich dreissig Prozent arbeiten. Und ich fühle mich in der Lage, den Job zu machen.
Haben Sie Angst vor bleibenden Schäden?
Die hatte ich. Die Ärzte haben mich aber beruhigt: Ich bin und werde nicht mehr gaga sein als vorher (lacht).
Hatten Verwandte von Ihnen auch einen Hirnschlag?
Nein, und ich rauche auch nicht. Ich bin aber ein über 50-jähriger Mann, was bereits ein Risiko darstellt. Mir war das nicht bewusst, ich kannte niemandem in dem Alter mit einen Hirnschlag. Erst jetzt habe ich von zwei Bekannten erfahren, dass sie auch schon einen Hirnschlag hatten. Einer davon verkaufte vor einigen Jahren Hals über Kopf sein Geschäft, was ich damals sehr merkwürdig fand. Erst jetzt erzählte er mir, dass er einen Hirnschlag hatte. Das Thema ist leider noch immer ein Tabu, man spricht nicht darüber. Das ist gefährlich.
Leben Sie seit dem Hirnschlag gesünder?
Wegen der Medikamente darf ich keinen Alkohol trinken. Aber es wäre gelogen zu sagen, ich hätte mein Leben völlig umgekrempelt. Ich treibe nach wie vor keinen Sport.
Weshalb nicht?
Weil man dabei nicht gut E-Mails schreiben kann (lacht).
Ist der Computer so wichtig für Sie?
Ich bin schon ein Technikfreak.
Was stresst Sie am meisten?
150 Mails pro Tag.
Also ist doch nicht alles gut an der Technik?
Es kommt darauf an, wie man sie verwendet. Man verschickt viel zu viele E-Mail-Kopien an Leute, die gar nicht betroffen sind.
Falls Sie unheilbar krank würden - sollten die Ärzte alles tun, um Sie am Leben zu erhalten?
Nein, und das wissen auch meine Angehörigen. Ich war schon früh mit der Tatsache konfrontiert, dass das Leben ein Ende hat und der Mensch dies akzeptieren muss. Als ich 18 Jahre alt war, verunfallte meine 16-jährige Schwester und erlitt den Hirntod. Wir mussten davon ausgehen, dass sie noch lange weiterleben, aber nie mehr aus dem Koma erwachen würde. In Absprache mit meinen Eltern entschieden die Ärzte, die Maschinen abzustellen.