Glaubt man der Werbung, muss man nur Vitaminpillen schlucken, um einer Grippe zu entkommen und rundum gesund zu bleiben. «Tut gut», heisst es etwa in der Werbung von Hersteller Burgerstein. Und Pfizers Multivitamin-Präparat Centrum soll «einen wesentlichen Beitrag liefern» – zur Stärkung der Abwehrkräfte, für Gehirn, Nerven, Augen, Zellschutz und vieles mehr.
Schweizerinnen und Schweizer greifen denn auch häufig zu bei all den Tabletten, Tropfen und Pulvern mit Vitaminen: Über 4 Millionen Packungen beziehen Konsumenten jedes Jahr in Apotheken, Drogerien und bei Ärzten, so die Zahlen des Herstellerverbands Interpharma in Basel. Hinzu kommen Präparate aus den Regalen der Grossverteiler. Laut Interpharma ist vor allem der Umsatz mit Vitamin D «enorm» gewachsen.
Bloss: Der Nutzen der verschiedenen Vitaminpräparate ist äusserst bescheiden. Dies zeigt jetzt ein Bericht des britischen Wissenschaftsmagazins «New Scientist». Die Autoren haben die Studien zu den einzelnen Vitaminen analysiert. Ihre Schlussfolgerung: «Klar bewiesen» ist lediglich, dass Folsäure gegen einen offenen Rücken (Spina bifida) beim Fötus vorbeugt. Immerhin «wahrscheinlich» sei, dass Vitamin D bei Osteoporose helfe.
Anders bei Vitamin C: Fast jeder hat es schon geschluckt, um Schnupfen und Husten vorzubeugen. Doch diese Vitaminzufuhr kann man sich schenken. Sie schützt weder vor Erkältungen noch vor Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Krebs. Im «New Scientist» sagt der US-Wissenschafter John Potter vom Krebsforschungszentrum in Seattle, die Wirkung von Vitamin C sei «für die meisten Anwendungen gleich null». Es könne höchstens eine Erkältung minimal verkürzen.
Ärzte verschreiben immer häufiger Vitamin D. Doch auch beim hochgelobten «Sonnenvitamin» ist die Studienlage ebenfalls schwach. Sinnvoll ist es für Schwangere und für gebrechliche Senioren, die kaum an die Sonne kommen. Hingegen gibt es keinen Beweis, dass Vitamin D auch Depressionen oder Krebs vorbeugt (Gesundheits-tipp 5/14).
Überdosis kann der Gesundheit schaden
Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass grössere Mengen dieser Vitamine die Gesundheit gefährden können. Laut Peter Jüni, Professor am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, sind vor allem die Vitamine A und E sowie Betacarotin problematisch. Sie sollen für die Augen gut sein oder die Zellen vor Umweltgiften und Stress schützen. Doch sie können auch das Risiko bestimmter Krebskrankheiten oder für Schlaganfall erhöhen. Vor einem Jahr zeigte eine Übersichtsstudie aus Dänemark: Wer mehr als den Tagesbedarf an Betacarotin oder Vitamin E zu sich nimmt, hat ein leicht erhöhtes Risiko, vorzeitig zu sterben. Für Peter Jüni ist damit klar: «Wenn es keinen eindeutigen medizinischen Grund gibt, sollte man die Finger von Vitaminpräparaten lassen.» Sie seien im besten Fall Geldverschwendung, im schlechtesten schädlich.
Selbst das scheinbar so harmlose Vitamin C kann bei grösseren Mengen zu Beschwerden führen. So zeigte eine grosse Studie aus Stockholm, dass bereits 1 Gramm pro Tag das Risiko für Nierensteine verdoppelt. Präparate enthalten oft 0,5 bis 1 g Vitamin C.
Präventivmediziner David Fäh von der Uni Zürich sagt: «Für die meisten Menschen sind Vitaminpillen nicht zu empfehlen.» Denn die Präparate würden ihnen nichts nützen, aber möglicherweise schaden. Ausgenommen seien Menschen mit einem nachgewiesenen Mangel an bestimmten Vitaminen – zum Beispiel wegen einer Krankheit des Darms oder einer strengen Diät. Auch Frauen mit Kinderwunsch brauchen mehr von bestimmten Vitaminen.
Doch die Hersteller machen der Kundschaft weis, dass fast jeder zu wenig Vitamine bekomme. So schreibt Supradyn-Hersteller Bayer: «Unser heutiger Lebensstil» führe dazu, «dass wir zu wenig Vitamine zu uns nehmen». Nicht einmal jeder Zehnte würde genügend Gemüse und Früchte essen. Die Folge, so Bayer, seien «latente Mangelerscheinungen» wie Müdigkeit und Erschöpfung. Oft behaupten Hersteller auch, der Vitaminbedarf sei bei Stress oder im Winter höher.
Stress: Zusätzliche Vitamine unnötig
Dabei sind die Leute in der Schweiz «im Allgemeinen ausreichend versorgt», sagt Mediziner Fäh. Dies zeigte auch der Schweizerische Ernährungsbericht 2012. Um den Vitaminbedarf zu decken, reicht eine durchschnittlich gesunde und einigermassen abwechslungsreiche Ernährung. Fäh: «Das gilt auch im Winter und bei Stress.» Ausnahmen seien zum Beispiel Menschen, die sich ausschliesslich von pflanzlichen Lebensmitteln ernähren. Ihnen fehle oft Vitamin B12. Oder ältere Menschen, die gewisse Nährstoffe nicht mehr so gut aufnehmen können. Für sie gilt: «Man kann problemlos zum billigsten Produkt vom Grossverteiler greifen», so Fäh. Die Unterschiede seien kaum relevant. Dies gelte grundsätzlich auch für synthetische Vitaminpillen und solche, die aus natürlichen Quellen gewonnen wurden.
Herstellerin Burgerstein sagt, dass man sich bei allen Produkten an die behördlich festgelegten Höchstdosierungen halte und in der Werbung keine unerlaubten Aussagen mache. Der Nutzen von Vitaminpräparaten sei für viele Einsatzgebiete wissenschaftlich nachgewiesen. Pfizer schreibt, der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen über Centrum sei «wissenschaftlich und behördlich bestätigt». Die Firma Bayer hält daran fest, dass Supradyn bei einem erhöhten Vitaminbedarf angezeigt sei, etwa bei Krankheit, erhöhter Belastung oder Müdigkeit.