Naphthalin ist in der Schweiz verboten. Denn der Stoff aus Steinkohleteer steht im dringenden Verdacht, Krebs auszulösen. Hersteller verwendeten ihn früher als Weichmacher in Gummidichtungen von Gebäuden und in Gummimatten oder als Insektizid in Bahnschwellen und Türbalken. In den letzten zwei Jahren wurden in der Schweiz mehrere Klassenzimmer, in Ebikon LU sogar ein Schulhaus geschlossen, weil zu viel Naphthalin in die Raumluft entwich.
Jetzt zeigt die Stichprobe des Gesundheitstipp: Naphthalin lässt sich im Urin von vielen Menschen nachweisen. Zwei Speziallabors untersuchten den Urin von 30 Frauen, Männern und Kindern auf Rückstände von rund 60 Pestiziden (siehe Kasten «So testete der Gesundheitstipp»). Alle Proben enthielten Rückstände, die von Naphthalin oder Carbaryl stammen. Auch Carbaryl ist in der Schweiz verboten und steht im Verdacht, Krebs auszulösen.
Im Urin der 30 Personen fanden sich auch andere in der Schweiz verbotene Pestizide. Dazu kommen Pestizide, die zwar zugelassen sind, aber laut EU oder Greenpeace im Verdacht stehen, Krebs, genetische Defekte oder bei längerer Belastung Organschäden zu verursachen (siehe Tabelle). Einige der Stoffe können selbst ungeborene Kinder im Mutterleib schädigen. Viele Urinproben enthielten Rückstände von ganzen Pestizidcocktails: Bei einer 31-jährigen Frau aus Baden AG wies das Labor 17 Pestizide nach. Bei einem 3-jährigen Buben aus Zürich fanden sich 11 Pestizide.
«Extrem gefährliche Gifte»
Alle Urinproben enthielten zudem Rückstände von Chlorpyrifos. Der Stoff schädigt bereits in geringen Mengen das Gehirn von Neugeborenen. Produzenten setzen das Insektizid etwa bei Zitrusfrüchten ein. Bei einer Stichprobe fand der Gesundheitstipp Chlorpyrifos auf Orangen von Grossverteilern (2/2020). Das Gift ist seit Februar in der EU verboten – in der Schweiz erst ab Juli, weil Hersteller wie der Agrokonzern Syngenta Beschwerde eingelegt hatten. Für Martin Forter von den Ärzten für Umweltschutz zeigt das Beispiel, «dass man sich fragen muss, wie gut der Bund die Bevölkerung vor Pestiziden schützt».
Die Experten wiesen bei allen Personen auch Rückstände des Pflanzenschutzmittels Parathion und zweier ähnlicher Substanzen nach. Die Weltgesundheitsorganisation stuft alle drei Stoffe als «extrem gefährliche Gifte» ein. Thomas Göen, Professor und Chemiker am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Erlangen (D), hat die Proben für den Gesundheitstipp untersucht. Ihn wundert es nicht, dass verbotene und gefährliche Pestizide wie Naphthalin und Parathion so verbreitet im Urin vorkommen: «Wir führen viele Lebensmittel aus Staaten ein, in denen die Bauern solche Substanzen immer noch anwenden dürfen.» Für Martin Forter ist klar: «Verbotene Pestizide gehören nicht in den Urin.» Die Behörden wollen importierte Produkte aus Nicht-EU-Ländern vermehrt prüfen (Kasten rechts).
Bei neun Urinproben – also bei fast jeder dritten Person – wies das Medizinische Labor Bremen das umstrittene Glyphosat nach. Am stärksten belastet war der 3-jährige Bub aus Zürich. Das Pestizid ist eines der weltweit am häufigsten eingesetzten Unkrautvernichter. Man findet es praktisch überall, wie frühere Stichproben des Gesundheitstipp zeigten. Zum Beispiel:
in Hülsenfrüchten wie Linsen (4 von 15 Proben, 6/2012)
in Bier (12 von 30 Proben, 4/2016)
in Kichererbsenhummus (1/2020).
Wie schädlich Glyphosat ist, darüber entzündete sich in den letzten Jahren eine heftige politische Debatte. Die Weltgesundheitsorganisation beurteilte Glyphosat Ende 2015 als «wahrscheinlich krebserregend» – andere Organisationen und Behörden teilen diese Einschätzung nicht. Dennoch sprach ein US-Gericht dem 46-jährigen Hauswart Dewayne Johnson vor zwei Jahren 78 Millionen Dollar Schmerzensgeld zu, weil er glaubhaft machen konnte, dass er wegen Glyphosat an Krebs erkrankt war. In der Schweiz gehörte das Gift laut der Verkaufsstatistik von Pflanzenschutzmitteln im Jahr 2018 zu den fünf am meisten verwendeten Pestiziden. Die Schweizer Ärzte für Umweltschutz fordern seit Jahren ein Verbot.
Die Labors wiesen zudem im Urin auch Mengen von Rückständen nach, die problematisch sein können. Mindestens jede dritte Person war mit einer oder mehreren der getesteten Substanzen massiv stärker belastet als die Bevölkerung im Durchschnitt. Bei einer 41-jährigen St. Gallerin fanden sich über 150 Mikrogramm Carbaryl pro Liter Urin – das ist mehr als die gesamte Menge bei allen anderen Personen zusammen.
Ein 47-jähriger Schaffhauser hatte besonders hohe Rückstände von gleich vier Pestiziden, darunter von Deltamethrin. Es kann laut Greenpeace das Hormonsystem von Lebewesen stören und damit Fortpflanzung, Wachstum, Entwicklung oder Verhalten beeinträchtigen. In der Schweiz ist das Insektizid immer noch zugelassen.
Bei einem 11-jährigen Jungen aus Zürich fand das Labor auch Rückstände von Clothianidin und Thiamethoxam – und erst noch besonders viel davon. Clothianidin ist in der Schweiz und der EU verboten, Thiamethoxam in der EU seit August 2019. Schweizer Bauern dürfen es noch bis Ende Juni dieses Jahres spritzen.
Auch wer auf Bio setzt, ist belastet
Erschreckend: Auch diejenigen Personen, die sich vor der Messung eine Woche ausschliesslich von Bio-Lebensmitteln ernährten, hatten Pestizidcocktails im Urin. Der 11-jährige Junge verbrachte eine Woche bei seiner Grossmutter im ländlichen Fällanden ZH, bevor er die Urinprobe abgab. Dort gab es strikte Bio-Kost. Trotzdem fand das Labor bei ihm elf Pestizide.
Der Chemiker Thomas Göen sagt: «Konsumenten sind einer extremen Vielzahl von Fremdstoffen ausgesetzt – nicht nur übers Essen, sondern auch über die Umgebungsluft oder Alltagsprodukte.»
So übertragen Wind und Wasser die Spritzmittel von konventionell bewirtschafteten Äckern auf Bio-Felder. Eine Studie der Uni Neuenburg zeigte im letzten Jahr: Auf 93 Prozent der untersuchten Bio-Äcker im Mittelland waren Spuren von Insektiziden nachweisbar. Pestizide sickern auch ins Trinkwasser, wie eine Stichprobe des «K-Tipp» aufdeckte: 13 von 30 Wasserproben waren belastet («K-Tipp» 1/2020). Pestizide gelangen zudem über Haut und Atmung in den Körper. Oder in die Haare: Bei einer weiteren Stichprobe fand der «K-Tipp» in der Haarprobe einer 77-jährigen Thurgauerin zwei in der Landwirtschaft verwendete Pilzgifte sowie Rückstände von Medikamenten für Hühner («K-Tipp» 9/2019). Die Frau ass zwar ausschliesslich Bio-Produkte – doch ihr Haus befindet sich inmitten von Äckern. Und es steht neben einer Geflügelzucht.
Immerhin lässt sich mit Bio-Kost die Pestizidbelastung senken. Fünf der sechs am wenigsten belasteten Personen hatten sich im Vorfeld biologisch ernährt. Die Ergebnisse der Gesundheitstipp-Stichprobe zeigen allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Der Gesundheitstipp liess den Urin auf rund 60 Pestizide untersuchen – in der EU-Datenbank gibt es aber über 1400 solche Gifte. Thomas Göen geht daher davon aus, dass die 30 Personen weitere Substanzen im Urin hatten: «Die meisten Pestizide lassen sich darin noch nicht nachweisen.»
So testete der Gesundheitstipp
Zwei Labors analysierten im Auftrag des Gesundheitstipp den Morgen-Urin von 30 Personen aus der Schweiz im Alter von 3 bis 74 Jahren. Das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Erlangen (D) prüfte die Proben auf Rückstände von rund 60 Pestiziden. Das Medizinische Labor Bremen untersuchte den Urin auf den Unkrautvernichter Glyphosat und dessen Abbauprodukt. Rund die Hälfte der Testpersonen ass in der Woche vor der Urinabgabe konventionell produzierte Lebensmittel, die andere Hälfte vorwiegend Bio-Produkte.
Der menschliche Körper baut viele Pestizide rasch ab und scheidet sie nach wenigen Stunden aus. Im Urin lassen sich oft nur noch deren Abbauprodukte nachweisen. Bei einigen Rückständen kommen auch mehrere Pestizide als ursprüngliche Substanz in Frage.
Bund verspricht, Lebensmittel stärker zu prüfen
Der Gesundheitstipp hat die Bundesämter für Landwirtschaft und für Lebensmittelsicherheit mit den Ergebnissen der Stichprobe konfrontiert. In Absprache schreiben sie, der Nachweis von Pestizidrückständen im Urin bedeute nicht, dass die Gesundheit der 30 Personen gefährdet sei. Spuren von verschiedenen Rückständen im Urin seien zu erwarten.
Die Behörden würden Pflanzenschutzmittel nur dann zulassen, wenn sie «keine Gesundheitsgefährdung darstellen». Dies gelte auch für Glyphosat. Das Herbizid sei laut Studien kein Krebsrisiko. Aus gesundheitlicher Sicht bestehe damit kein Handlungsbedarf.
Zu den gefundenen Rückständen verbotener Pestizide schreiben die Ämter: «Importierte Lebensmittel» aus Staaten ausserhalb der EU könnten Spuren dieser Pestizide enthalten. Die Behörden haben die Gefahr aber erkannt: Seit dem 1. Mai müssen sie Lebensmittel aus Nicht-EU-Ländern verstärkt auf Pestizide prüfen.
Allerdings: In der Schweiz darf ein Lebensmittel nicht mehr als den Höchstgehalt eines einzelnen Pestizids enthalten. Tatsache ist aber: Konsumenten essen und trinken viele Lebensmittel. So kommt täglich ein ganzer Pestizidcocktail im Körper zu sammen. Für diesen Cocktail gibt es keinen Höchstwert – obwohl es Hinweise gibt, dass solche Stoffe ihre schädliche Wirkung gegenseitig verstärken können. Die Behörden sagen trotzdem, die Konsumenten seien «vor möglichen negativen Auswirkungen von Pestiziden geschützt».
Martin Forter von den Ärzten für Umweltschutz bezweifelt das: Auch heute seien «für die menschliche Gesundheit problematische Pestizide auf dem Markt».