Als 15-Jähriger hatte Vladimir Rott aus Zürich einen Wachstumsschub. «Plötzlich waren alle anderen kleiner», erzählt er. Der Bub wollte aber nicht der Grösste sein. Er machte sich klein und sass wie ein Nussgipfel da. Bald schmerzte sein Rücken. Schliesslich musste er ins Haltungsturnen – am schulfreien Mittwochnachmittag. «Es war todlangweilig und nützte nichts», sagt er.
Andere machten ähnliche Erfahrungen. Das geht aus einer Strassenumfrage des Gesundheitstipp hervor. Auch heute noch bieten Physiotherapeuten Haltungsturnen an, zum Beispiel die Physiotherapie Grütli im thurgauischen Pfyn oder die Physiowerkstatt in Näfels GL. Auch Fitnesszeitschriften vertreten nach wie vor diese Theorie. Die Zeitschrift «Men’s Health» zeigte erst kürzlich «14 Kräftigungs- und Dehnübungen für die gute Haltung».
Rückenschmerz lässt sich so nicht lindern
Mittlerweile weiss man aber: Das traditionelle Haltungsturnen, bei dem man die Muskeln kräftigt und dehnt, bringt nichts. Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Die Haltung wird dadurch nicht besser.» Die Muskeln an der Oberfläche des Rückens und des Bauchs, die man mit dem Training kräftige, benötige der Körper nicht für die Haltung, sondern für die Bewegungen. Das bestätigt auch eine schwedische Studie. Sie kam bereits vor über zehn Jahren zum Schluss: Haltungsturnen wirkt nicht gegen Rückenschmerzen. Die Forscher berücksichtigten die Erfahrungen von 7500 Personen.
Für eine bessere Haltung muss man die tiefe Muskulatur trainieren. Dazu gehören Muskeln ganz nah an der Wirbelsäule, im Beckenboden und im Zwerchfell. Sportmediziner Walter O. Frey von der Universitätsklinik Balgrist Movemed in Zürich sagt: «Es ist sehr wichtig, dass man diese Kernmuskulatur aktiviert, weil sie die Wirbelsäule stabilisiert.» Sie hält jeden Wirbel in seiner idealen Position. Von der Kernmuskulatur her entwickelt man die Körperhaltung. Frey: «Eine aufrechte Haltung ist wichtig.» Wer krumm sitzt, belastet seine Muskeln falsch. Das führt zu Verspannungen und Schmerzen im unteren Rücken und im Nacken.
Der Gesundheitstipp hat zusammen mit der Zürcher Körpertherapeutin Karin Albrecht acht Übungen für die tiefe Muskulatur in einem Merkblatt zusammengestellt (siehe unten). Albrecht rät, die Übungen langsam zu machen: «Man muss zuerst lernen, die tiefe Muskulatur wahrzunehmen», sagt sie.
Übungen in den Alltag integrieren
Eine Hexerei sind die Übungen aber nicht – im Gegenteil: Sie sind einfach und lassen sich gut in den Alltag integrieren. Wer an der Bushaltestelle oder an einer Kasse wartet, kann zum Beispiel das «Pendel» üben: Man platziert die Füsse hüftbreit auseinander und stellt sich vor, dass man dringend aufs WC müsste und den Urin zurückhält. So wird der Beckenboden aktiviert. Man stellt ihn sich als Lift vor, der beim Ausatmen langsam nach oben fährt. Beim Einatmen entspannt man die Muskeln. Dabei pendelt man langsam von der Ferse auf den Vorfuss und wieder zurück.
Eine gute Haltung kann man unterstützen: Sitzen Sie tagsüber möglichst wenig, denn Stehen und liegen sind besser für den Rücken. Auch die Schultern nach hinten zu ziehen, führt eher zu Verspannungen. Übrigens: Hohe Absätze sind schlecht für eine gute Haltung.
Die Physiowerkstatt Näfels schreibt, das angebotene Haltungsturnen bestehe nicht aus dem Trainieren einzelner Muskeln. Spielerische Übungen würden Kraft, Ausdauer, Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit verbessern.
Strassenumfrage: Mussten Sie ins Haltungsturnen?
René Weiss, 62, Niederhasli ZH
«Ja. Mit 16 musste ich ins Haltungsturnen. Innert zwei Jahren war ich fast 20 Zentimeter gewachsen und bekam einen runden Rücken. Ich ging in ein katholisches Internat und durfte einmal pro Woche raus – zur Therapie. Doch bestimmte Übungen taten richtig weh.»
Vladimir Rott, 67, Zürich
«Ja. Mit 15 Jahren wuchs ich sehr schnell. Plötzlich waren alle anderen kleiner. Ich wollte nicht auf sie hinabschauen. Deshalb machte ich mich klein, auch am Pult. So bekam ich einen krummen Rücken und Schmerzen und musste ins Haltungsturnen. Ich ging überhaupt nicht gern, denn es war todlangweilig. Das Turnen nützte nichts.»
Urs Gurtner-Oesch, 38, Biel BE
«Ja. Ich bin im Alter von sechs bis sieben Jahren extrem schnell gewachsen und stand immer etwas schief da. Doch genützt das Turnen nichts. Ich sitze und stehe noch immer schief.»
Thomas Ruflin, 65, Winterthur ZH
«Nein. Ich war ständig in Bewegung. Ich bin überzeugt, dass ich deswegen nie Probleme mit dem Rücken hatte. Ich wuchs in Turbenthal auf. Mein Schulweg war lang, jeweils eine halbe Stunde zu Fuss. Meine Eltern waren Bauern. War schulfrei, musste ich zu Hause helfen. Hatte ich mal frei, rannte ich zu meinen Gspänli einen Hoger weiter.»
Peter Lehmann, 58, Winterthur ZH
«Ja. Als Student sagte mir jemand, dass ich einen runden Rücken mache. Deshalb ging ich ins Haltungsturnen der Uni. Einmal drückte mir die Leiterin die Schultern nach hinten und sagte: «So musst du stehen!» Ich weiss noch, dass ich dachte: Das ist unmöglich, ich kann nicht so weit nach hinten gebeugt stehen!»