Es ist 9 Uhr früh in Comologno, zuhinterst im Onsernonetal. Mitte April ist es noch kühl auf 1000 Meter über Meer. Die Sonne bescheint erst knapp den Kirchturm. Der Aufstieg beginnt mit einer Steintreppe, die zwischen den Häusern aus dem Dorfe führt. Dann folgt ein weicher Weg auf Wiesen, vorbei an Kastanienbäumen. Nach 40 Minuten ist der Weiler Ligünc erreicht, eine Ansammlung gepflegter Steinhäuschen, sogenannter Rustici.
Knapp 500 Höhenmeter sind nun geschafft. Ziel der anspruchsvollen Wanderung: das Nachbartal Vergeletto (siehe Wanderung 3). Auf den Terrassen aus Steinmäuerchen geniesst ein halbes Dutzend Kühe die Morgensonne: Sie liegen mit geschlossenen Augen da und käuen wieder. Wer jetzt schon müde ist, zweigt nach links ab und nimmt den Weg nach Spruga. Das ist eine schöne Rundwanderung. In den hintersten, wilden Wäldern von Spruga ging im vergangenen Dezember ein Wolfsrudel in die Fotofalle.
«Buona giornata», einen schönen Tag, wünscht dem Wanderer ein Mann, der hinter dem Hause Holz schichtet. Nun wird der Weg alpiner. Er verschwindet in einem Lärchenwald, das Herz schlägt stärker. Eine riesige umgestürzte Tanne versperrt den Weg, jetzt ist etwas Klettern angesagt. Im Schatten der Bäume liegt noch viel Schnee. Zum Glück wird der Wald bald lichter. Die Hochebene der Alp Salèi naht, mit dem imposanten Kreuz aus Holz. Hinter den Alphütten grasen zwei Gemsen.
Es geht weiter, vorbei am Bergsee, dann hat man den höchsten Punkt erreicht. Sonnenhut und Leibchen sind mittlerweile nassgeschwitzt. Dann sticht man hinunter in den schattigen Nordhang des Vergeletto, des schroffen Seitentals des Onsernone – der letzte Abstieg geht in die Knie. Nach etwas mehr als fünfeinhalb Stunden hat man die Talsohle erreicht.
Es geht steil bergauf, oft aber durch kühlen Wald
Hinter der Tessiner Touristenmetropole Locarno öffnen sich vier Täler, die sich im Frühling ausgezeichnet zum Wandern eignen: Neben dem Onsernonetal sind dies das Maggiatal, das Centovalli und das Verzascatal. Den Möglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt, man braucht allerdings etwas Kondition und Trittsicherheit. Der Gesundheitstipp hat für seine Leser acht überwiegend leichte und mittlere Touren zusammengestellt. Die Tessiner Wanderleiterin Britta Buzzi-Huppert lebt in Aurigeno im Maggiatal und kennt diese Täler gut. Die Täler, so sagt sie, hätten einiges gemeinsam: Sie sind steil, die Aufstiege für den Wanderer deshalb lang. «Oft startet man für eine Tour auf der Talsohle bei 500 Metern und steigt dann hoch bis auf 2000 Meter.» Dafür wandere man meist in waldigen Gebieten, das mache den Aufstieg angenehmer. Buzzi-Huppert: «Der Wald hat die Täler zurückerobert, bis hinunter zur Talsohle.» Und dennoch seien die Täler sehr verschieden. Buzzi-Huppert: «Jedes hat einen eigenen Charakter.»
Das wilde Onsernonetal hat sich dem Massentourismus entzogen. Fast 20 Kilometer windet sich die Strasse dem Hang entlang, Kurve um Kurve. Die Dörfer reihen sich perlschnurartig der Strasse entlang: Auressio, Loco, Berzona, Russo und zuhinterst Comologno und Spruga. Schon früh zog das Tal Intellektuelle, Anarchisten, Künstler und Aussteiger in seinen Bann. In Berzona liessen sich die Schriftsteller Golo Mann, Alfred Andersch oder Max Frisch nieder. Das ehemalige Haus von Frisch – mit Swimmingpool – liegt unter dem Friedhof, gut abgeschottet hinter Törchen und Bäumen. In Comologno steht das grosse Haus «La Barca» mit einem auffälligen Turm. Es war im Zweiten Weltkrieg Zufluchtsort für Menschen, die vor den Faschisten fliehen mussten. Wer mehr darüber wissen will: Im Museo Onsernonese in Loco ist das alles beschrieben.
Gleich beim Einstieg ins Tal gibt es eine wunderschöne Wanderung: Von Intragna führt der Maultierpfad, die «Via delle Vose», am schattigen Hang nach Loco. Es geht zwar auch bergauf, aber weit weniger beschwerlich als beim Übergang von Comologno ins Vergeletto. Zuhinterst im Tal bei Spruga führt ein Strässchen zu den Ruinen der Bagni di Craveggia, einem früheren Kurbad bereits auf italienischem Grund. Noch rinnt ein Strahl des warmen Wassers aus dem Berg in die neu errichteten Badewannen aus Stein.
Das Verzascatal ist das Gegenstück des Onsernonetals: laut, hektisch, voller Touristen. Britta Buzzi-Huppert: «Das Tal ist komplett überlaufen.» Die Staumauer dominiert, hat den vorderen Teil des Tals zerstört. Wegen Wartungsarbeiten hat der Stausee auch jetzt im Frühling kaum Wasser. Die Dorfruinen vergangener Zeiten kommen nun im eingetrockneten Schlamm zum Vorschein. Der Wind trägt den Staub auf die breite Strasse.
Wohnmobile quälen sich dem Stausee entlang durch die Dörfer. Überall Parkplätze für die Schaulustigen, besonders viele bei Lavertezzo mit seiner berühmten Steinbrücke. Sie kommen auch wegen der smaragdgrünen Farbe des Flusses. Ein italienischer Blogger soll einmal geschrieben haben: «Die Malediven, eine Stunde von Mailand entfernt.» Im Sommer baden die Touristen hier, Beizli locken.
Schroff sind die Bergwände, vor allem im hinteren Teil des Tals. Buzzi-Huppert: «Das Verzascatal ist sehr steil.» Abseits der Touristenströme gibt es aber auf dem Talgrund schöne und leichte Wandertouren. Eine davon: Vom pittoresken Dörfchen Sonogno zuhinterst im Tal entlang der Talsohle nach Lavertezzo.
Das Centovalli war ein wichtiges Tal für den Austausch von Waren mit Italien. Kein Wunder, führt hier eine Bahn von Locarno nach Domodossola. Am Südhang ladet die «Via del Mercato» von Camedo nach Intragna zum Wandern ein. Der ehemalige Saumtierpfad, auf dem die Händler ihre Waren nach Locarno brachten, geht rauf und runter. Oft führt der Weg über Steinplatten. Hübsch renoviert ist das Dörfchen Verdasio, an den Briefkästen kleben hauptsächlich Deutschschweizer Namen.
Hübsch auch die Wanderung von Costa zum Monte Comino, auf den auch eine Seilbahn von Verdasio führt. Wer den Weg nimmt, macht einen Abstecher zur Pian Segna, einer Mulde mit einem hektargrossen Hochmoor, das viele Tier- und Pflanzenarten beherbergt. Buzzi-Huppert sagt: «Das Centovalli ist zwar beim Talboden auch sehr steil, mit zunehmender Höhe flacht es aber ab. Das macht es angenehm zum Wandern.»
Die Maggia verändert das Tal kontinuierlich
Das grösste und breiteste Tal ist das Maggiatal. Auf dem Talboden sammelt die Maggia Geröll und lagert es im Delta von Ascona wieder ab. Der Fluss verändert das Tal kontinuierlich, oft wegen starker Unwetter im Herbst. Buzzi-Huppert: «Den Badeort vom letzten Jahr findet man häufig nicht mehr – weil es ihn nicht mehr gibt.» Das Tal führt 40 Kilometer tief in den Norden hinein, bis hin zu den Alpen. Der höchste Punkt ist der Berg Basodino mit einer Höhe von 3200 Metern. Im hinteren Teil verzweigt sich das Tal immer wieder, die hübschesten Seitentäler sind wohl das Val Bavona oder das Val Lavizzara. Eine der schönsten Wanderungen führt durch das Val Bavona, von Bignasco nach San Carlo. Man passiert steile Bergflanken, aber auch Wasserfälle und Rustico-Dörfchen.
Genug Proviant mitnehmen ist wichtig – es gibt kaum Läden
Wer in diese Täler wandern geht, sollte sich vorbereiten. Buzzi-Huppert: «Wanderer sollten diese Täler nicht unterschätzen.» Das Wetter könne rasch umschlagen. Gute und hohe Wanderschuhe sind notwendig, oft ist der Weg steil oder steinig. Buzzi-Huppert: «Das Laub liegt lange auf dem Boden. Wenn es feucht ist, macht dies den Weg glitschig.» Auch sollte man daran denken, genügend Proviant und Wasser mitzunehmen – es gibt vielerorts keine Läden.
Weitere Infos zu Wanderungen im Tessin
Buchtipp
Jochen Ihle und Toni Kaiser: «Die 55 schönsten Wanderungen im Tessin», Rothus Medien, Fr. 19.90
Acht klassische Touren in den vier populärsten Tessiner Tälern
1 Camedo–Verdasio–Intragna
«Via del Mercato», Centovalli
- Länge: 12 km, Wanderzeit: 4 Std. 20 Min.
- Aufstieg: 740 m, Abstieg: 950 m
- Anfahrt: Centovalli-Bahn ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Mittel
2 Costa–Calascio–Monte Comino
Centovalli
- Länge: 5,5 km, Wanderzeit: 3 Std.
- Aufstieg: 700 m, Abstieg: 200 m
- Anfahrt: Centovalli-Bahn ab Bahnhof Locarno, Seilbahn ab Intragna
- Schwierigkeitsgrad: Mittel
3 Comologno–Alpe Salèi–Vergeletto
Onsernonetal
- Länge: 14,6 km, Wanderzeit: 5 Std. 50 Min.
- Aufstieg: 1157 m, Abstieg: 1343 m
- Anfahrt: Postauto 324 ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Mittel bis schwer
4 Intragna–Loco
Maultierpfad «Via delle Vose», Onsernonetal
- Länge: 5,7 km, Wanderzeit: 2 Std. 30 Min.
- Aufstieg: 590 m, Abstieg: 255 m
- Anfahrt: Centovalli-Bahn ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Mittel
5 Loco–Passo della Garina–Aurigeno
Onsernonetal, Maggiatal
- Länge: 8,6 km, Wanderzeit: 3 Std. 30 Min.
- Aufstieg: 616 m, Abstieg: 959 m
- Anfahrt: Postauto 324 ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Mittel
6 Ponte Brolla–Maggia (Hängebrücke)
Maggiatal
- Länge: 10,3 km, Wanderzeit: 3 Std. 15 Min.
- Aufstieg: 462 m, Abstieg: 390 m
- Anfahrt: Centovalli-Bahn
- oder Postauto 315 ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Leicht
7 Bignasco–San Carlo
Maggiatal, Val Bavona
- Länge: 12,5 km, Wanderzeit: 3 Std. 55 Min.
- Aufstieg: 580 m, Abstieg: 80 m
- Anfahrt: Postauto 315 ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Mittel
8 Sonogno–Lavertezzo
«Sentiero Verzasca», Verzascatal
- Länge: 14 km, Wanderzeit: 3 Std. 40 Min.
- Aufstieg: 260 m, Abstieg: 640 m
- Anfahrt: Postauto 321 ab Bahnhof Locarno
- Schwierigkeitsgrad: Leicht