Schweizer Chirurgen brachen letztes Jahr einen Rekord: Sie entnahmen 200 Organspendern Organe wie Herz, Lunge, Nieren und Leber. Kein Wunder, zeigte sich Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, gegenüber der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens «sehr erfreut».
Möglich machte dies eine umstrittene Technik: die Entnahme der Organe zum Zeitpunkt, in dem das Herz aufgehört hat zu schlagen. Ärzte stellen die Maschinen ab, die den Patienten am Leben erhalten. Nach dem letzten Herzschlag warten sie lediglich fünf Minuten und prüfen dann, ob das Hirn ebenfalls abgestorben ist. Dann dürfen die Chirurgen dem Patienten die Organe entnehmen.
Üblicherweise ist die Reihenfolge umgekehrt: Ärzte stellen zuerst fest, dass das Hirn nicht mehr arbeitet und der Patient tot ist. Erst dann stellen sie die Herzmaschine ab. Und erst dann dürfen Chirurgen Organe entnehmen. Das heisst: Mit der neuen Methode führen Chirurgen zuerst den Herztod und dann den Hirntod herbei. Seit dem vergangenen Jahr verfahren mehr Spitäler nach dieser Methode. Neu entnehmen Chirurgen solchen Patienten auch das Herz. Diese Menschen lagen zuvor auf der Intensivstation und wurden künstlich beatmet. Sie erlitten einen Hirnschlag oder eine Hirnblutung, wurden nach einem Herzstillstand wiederbelebt oder überlebten einen Suizidversuch.
Auch schwerkranke Babys kommen infrage. In der Realität läuft das Prozedere etwa so ab: Wenn das Herz des Patienten stehen bleibt, muss sich die Familie rasch verabschieden, denn die Zeit eilt. Fünf Minuten nach dem letzten Herzschlag müssen zwei Ärzte den Tod des Patienten bescheinigen. Sie reiben ihm zum Beispiel mit einem Wattestab in den Augen oder spülen die Ohren mit Eiswasser. Reagiert er nicht, gehen die Ärzte davon aus, dass das Gehirn nicht mehr arbeitet.
Arzt blockiert nach Tests die Hauptschlagader
Diese Tests sind Pflicht: Ärzte dürfen nur Organe entnehmen, wenn Hirn und Hirnstamm nicht mehr funktionieren. Nach den Tests setzen die Ärzte mit einer Maschine den Blutkreislauf wieder in Gang. Die Chirurgen blockieren aber die Hauptschlagader des Patienten, indem sie dort einen Ballon anbringen. Der Grund: So verhindern sie aktiv, dass das Gehirn wieder durchblutet wird. So steht es in den Richtlinien von Swisstransplant. Fachleute sind entsetzt.
Für die Zürcher Ethikerin Ruth BaumannHölzle ist die Entnahme von Organen nach Herzstillstand «ethisch höchst fragwürdig», wenn der Patient zuvor nicht explizit zugestimmt hat und weiss, wie die Entnahme abläuft. Zudem behandle man ihn als Organlieferant, solange er noch lebt. Ein weiterer Punkt: «Viele Experten bezweifeln, dass Ärzte den Hirntod in so kurzer Zeit eindeutig feststellen können», sagt die Ethikerin. Margrit Kessler, ehemalige Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation, bestätigt: «Fünf Minuten nach dem Herzstillstand ist der Hirntod kaum schon eingetreten.»
Pikant: In Deutschland ist eine solche Vorgehensweise der Organentnahme verboten. Das Bundesministerium für Gesundheit schreibt auf Anfrage: «Eine zehnminütige – oder gar noch kürzere – Wartezeit nach dem Herzstillstand lässt nach heutigen Erkenntnissen keinen sicheren Schluss auf den Hirntod zu.» Kritik kommt auch vom Verein Ärzte und Pflegefachpersonen gegen Organspende am Lebensende (Äpol): Er reichte Strafanzeige ein gegen das Inselspital Bern, wo solche Organentnahmen stattfinden. Der Vorwurf: Ärzte führen den Tod der Organspender vorsätzlich herbei. «Erst mit dem Abklemmen der Aorta wird der Hirntod sichergestellt», steht in der Anzeige.
Doch die Staatsanwälte gingen nicht auf die Anzeige ein. Grund: Eine strafbare Handlung sei nicht ersichtlich, die Ärzte würden sich ans Gesetz und die Richtlinien der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) halten. Das Problem dabei: In der Akademie geben sich Ärzte selbst die Regeln. Im Jahr 2017 legte sie eigenmächtig fest, dass die Ärzte nicht mehr zehn, sondern nur noch fünf Minuten warten müssen, bis sie einem Patienten nach Herzstillstand die Organe entnehmen dürfen.
Regeln zugunsten der Transplantationsmedizin
Der Winterthurer Arzt Alex Frei vom Verein Äpol sagt: «Die SAMW stellt sich in den Dienst der Transplantationsmedizin.» Der Zürcher Historiker Simon Hofmann zeigte 2016 in seinem Buch «Umstrittene Körperteile» auf, dass die Regeln von Anfang an zum Ziel hatten, «die Leistungen der Transplantation nicht zu hemmen». Laut Hofmann schrieben die Ärzte ihre eigenen Regelwerke, um zu vermeiden, dass sich andere einmischen. Mit Erfolg: Heute stützen sich Gerichte und Gesetze darauf ab.
«So entsteht ein Kreislauf, in dem kritische Stimmen keinen Eingang finden», sagt Frei. Swisstransplant verweist auf die SAMW. Diese sagt: Das Vorgehen garantiere, dass die Hirnfunktionen zum Zeitpunkt der Organentnahme «irreversibel ausgefallen» seien. Eine Dauer von zehn Minuten biete keine Vorteile. Die Akademie sei nur dem Ziel einer ethisch hochstehenden medizinischen Versorgung verpflichtet.
Aufruf: Spenden Sie Ihre Organe?
Schreiben Sie uns: Redaktion Gesundheitstipp, «Organspende», Postfach, 8024 Zürich, redaktion@gesundheitstipp.ch