Übergewicht - Lieber dick und fit als schlank und träge
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saldo 20/2000
06.12.2000
Mehr Bewegung: Das ist der wichtigste Grundsatz zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit. Die Kontrolle des Gewichts kommt erst an zweiter Stelle.
In diesem Punkt sind sich der deutsche Ernährungsexperte Udo Pollmer und die Vertreter der gängigen Ernährungslehre einig. Mangelnde Bewegung ist für Dr. Reinhard Imoberdorf, Ernährungsspezialist am Kantonsspital Winterthur, der Hauptgrund für Übergewicht und die damit verbunden Gesundheitsrisiken. Erst an zweiter Stelle kom...
Mehr Bewegung: Das ist der wichtigste Grundsatz zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit. Die Kontrolle des Gewichts kommt erst an zweiter Stelle.
In diesem Punkt sind sich der deutsche Ernährungsexperte Udo Pollmer und die Vertreter der gängigen Ernährungslehre einig. Mangelnde Bewegung ist für Dr. Reinhard Imoberdorf, Ernährungsspezialist am Kantonsspital Winterthur, der Hauptgrund für Übergewicht und die damit verbunden Gesundheitsrisiken. Erst an zweiter Stelle kommt der Fettkonsum. Imoberdorfs Schlussfolgerung: "Ein fitter Übergewichtiger ist nicht schlechter dran als ein inaktiver Schlanker."
Leichtes Übergewicht - aber sonst rundum gesund. "Für solche Leute besteht überhaupt kein Grund, abzunehmen", meint Reinhard Imoberdorf. "Gewichtsabnahme ist nicht in jedem Fall etwas Gutes."
Aufgepasst bei hohem Blutdruck und Diabetes
Heisst das nun Entwarnung für die 30 Prozent leicht Übergewichtigen in der Schweiz mit einem Body Mass Index (BMI) zwischen 25 und 30? "Nicht ganz", schränkt Imoberdorf ein. "Bei hohem Blutdruck und ersten Anzeichen einer beginnenden Zuckerkrankheit sollte man etwas unternehmen." Die Massnahmen zur Gewichtskontrolle sind allseits bekannt: sich mehr bewegen, weniger essen.
Wie steht es mit den Verlockungen am Weihnachtsund Neujahrsbuffet? "Unbedingt geniessen", sagt Imoberdorf. Er rät zu einem flexiblen Gewichtsmanagement über die Festtage. Dabei baut man die opulenten Essen bewusst in den Menuplan ein und reduziert dafür die Zwischenmahlzeiten.
Das tönt einfacher, als es ist. Viele werden daher im Januar abnehmen wollen. Die Gewichtsabnahme sollte jedoch nur schrittweise geschehen, das heisst, nicht mehr als ein Kilogramm pro Woche. Sonst kann das Gewicht nicht gehalten werden: Der berüchtigte Jo-Jo-Effekt droht.
Marianne Erdin Garbagnati
Unser Wissen über Ernährung - ein Irrtum?
Essen Sie zu viel, zu süss, zu fett, zu salzig? "Keine Angst, alles halb so schlimm", behauptet der deutsche Ernährungsspezialist Udo Pollmer in seinem neuen Buch "Lexikon der populären Ernährungsirrtümer".*
Irrtum Diät
Eine strenge Diät - schon schwinden die Pfunde. Leider nein, argumentiert Pollmer, weil der Körper gegensteuert. Er schaltet auf Sparflamme, steigert den Hunger. So füllen sich nach der Diät die Fettpolster rasch auf, sogar stärker als vorher - der Jo-Jo-Effekt. Pollmer: "Diät macht dick, ob Sie wollen oder nicht."
Irrtum Vitamine
Mehr Vitamine - bessere Gesundheit. Diese Gleichung macht Vitaminpräparate, angereicherte Säfte und Müesli zum Riesengeschäft. Pollmer spottet nur darüber. Denn die wissenschaftlichen Fakten zeigen klar: "Pillenschlucker sterben ebenso häufig und an den gleichen Ursachen wie Menschen, die auf solche Nahrungszusätze verzichten."
Irrtum Obst
Zur gesunden Ernährung gehören Obst und Gemüse. Wer zweifelt an dieser Weisheit? Natürlich Pollmer. Alles nur Spekulation, ohne wissenschaftliche Belege. Sein Gegenbeispiel: die fleisch- und fettlastige Nahrung der Eskimos. "Sie wären längst durch Mangel an Obst und grünem Salat von der Erde verschwunden."
Irrtum Cholesterin
Kein Stoff wird so verteufelt wie Cholesterin. Zu Unrecht, findet Pollmer. Cholesterin ist so wichtig, dass es der Körper selber in der Leber herstellt. Wer das Cholesterin im Blut künstlich senkt, vermindert zwar das Herzinfarktrisiko. Dafür stirbt er eher an Krebs oder an einem Schlaganfall. Pollmer: "Sie können sichs also aussuchen." Konrad Wepfer
* Udo Pollmer, Susanne Warmuth: "Lexikon der populären Ernährungsirrtümer", Eichborn Verlag, 2000, Fr. 41.-. Internet: www.eule.com (Europ. Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaft)
"Aktivsein gehört zum biologischen Programm"
Der streitbare Ernährungsspezialist hat revolutionäre Ansichten über die moderne Ernährung. saldo fragte ihn nach seinen Essgewohnheiten.
saldo: Udo Pollmer, was essen Sie gerne, wenn Sie in der Schweiz sind?
Urs Pollmer: Raclette, wegen den Kartoffeln und dem Käse.
Und was lassen Sie stehen?
Alles, was mir nicht bekommt - und sei es angeblich noch so gesund, zum Beispiel rohe Körner.
Befolgen Sie überhaupt irgendwelche Ernährungsregeln?
Ich esse keine Erzeugnisse, die mit "gesunden" Sachen angereichert sind oder denen gezielt "ungesunde" Dinge entzogen wurden. Also trinke ich keine vitaminisierten Fruchtsäfte und esse keine kalorienreduzierten Produkte.
Wie schwer sind Sie mit dieser Philosophie geworden?
Ich weiss es nicht. Ich bin seit 20 Jahren nicht mehr auf der Waage gestanden.
Haben Sie je versucht, abzunehmen?
Nein, nie, warum sollte ich? Ich habe viele andere Dinge zu tun, die wichtiger sind.
Aber was haben Sie dagegen, wenn andere Leute versuchen, mit viel Energie und Geld abzunehmen?
Ich habe nichts dagegen. Aber sie müssen wissen, dass sie davon im Normalfall dicker, kränker und unglücklicher werden. Zudem gilt, dass Menschen, die in ihrem Leben sinnvolle Aufgaben mit Freude erfüllen, weniger über das Gewicht nachdenken und dadurch weniger dick werden.
"Übergewicht fördert Krankheiten": Sie lehnen sogar diesen Grundsatz der Ernährungsmedizin ab.
Viele Krankheiten werden zwar auf Übergewicht zurückgeführt, sind aber eigentlich die Folge von Bewegungsmangel. Dicke Menschen sind im Schnitt träger als dünne, deshalb sind sie auch häufiger krank - denn Aktivsein gehört zum biologischen Programm des Menschen.
Warum vergleichen Sie die populäre Ernährungslehre mit dem Ablass der Kirche im Mittelalter?
Warnt man heute vor Sünde, denken die meisten an den Kühlschrank und haben ein schlechtes Gewissen. Gegen diese Schuldgefühle werden dann teure Produkte mit irgendeinem Gesundheits-Hokuspokus angeboten - obwohl eine positive Wirkung auf die Gesundheit in aller Regel ausbleibt!
Konrad Wepfer