Es geschah im Januar dieses Jahres: Sandra Enderli aus Ennetbürgen NW war mit dem Auto unterwegs, als sich plötzlich der Airbag öffnete. Mit Tempo 120 prallte das Auto drei Mal gegen die Leitplanken und kam auf der linken Fahrspur zu stehen. «Ich konnte fast nicht glauben, dass ich noch lebe», erzählt sie.
Das Auto hatte Totalschaden, Sandra Enderli brach sich drei Rippen. Zwei Tage nach dem Unfall fiel sie seelisch in ein Loch. Obwohl sie äusserlich nahezu unverletzt blieb, wurde ihr bewusst: «Meinem Geist musste etwas Schlimmes zugestossen sein.» Die Angestellte einer Gebäudeversicherung schottete sich ab und ging wochenlang nicht aus ihrer Wohnung. «Ich fühlte mich niedergeschlagen und musste oft weinen.»
Was Sandra Enderli passiert ist, erleben viele Menschen irgendwann in ihrem Leben: Man verliert eine nahestehende Person, wird Opfer eines Gewaltverbrechens, gerät unter eine Lawine oder erleidet wie Enderli einen schweren Verkehrsunfall.
Die Reaktion der Nidwaldnerin sei typisch für ein Trauma, sagt der Psychiater und Traumaspezialist Ulrich Schnyder aus Zürich: «Traumatische Ereignisse verändern Gefühle, Gedanken und Stimmungen.» Dabei komme es auch zu innerer Anspannung, Schlafstörungen, Angstzuständen oder Depressionen.
Bei den meisten Betroffenen würden diese Beschwerden nach einigen Wochen nachlassen, sagt Ulrich Schnyder: «Das normale Leben kehrt zurück, und man muss immer weniger häufig an das traumatische Ereignis denken.»
«Ich fühlte mich ständig bedroht»
Das ist allerdings nicht immer der Fall: Bei einigen Betroffenen verschwinden die Beschwerden nicht.Ulrich Schnyder: «Sie entwickeln langfristige Störungen, die konstant ins Leben hineinfunken.»
So war es auch bei Italo Ponzo aus Zürich. Nach traumatischen Kindheitsjahren kämpfte der Wirtschaftsinformatiker als Erwachsener mit Schlafproblemen, Rückenschmerzen und Ängsten. «Ich fühlte mich ständig bedroht, selbst von Leuten auf der Strasse», sagt Ponzo.
Hinzu kam seine Angst, dass Menschen mit ihm nicht zufrieden seien: «Das machte mich krankhaft perfektionistisch.» Im Rückblick sagt Italo Ponzo: «Es war furchtbar anstrengend, jahrzehntelang mit solchen Gefühlen durchs Leben zu gehen.»
Je nach Ereignis ist das Risiko für langfristige Störung grösser
Das Risiko, dass sich aus einem traumatischen Ereignis langfristig eine Störung entwickelt, ist unter anderem abhängig von der Art des Traumas. Bei einem Autounfall liegt das Risiko bei 5 Prozent, bei einem Lawinenunglück oder Brand ist es es höher (Tabelle Seite 21).
Ein besonders hohes Risiko für langfristige Traumafolgestörungen haben Betroffene, deren Trauma von einem Menschen mit böser Absicht zugefügt wurde, sagt Experte Ulrich Schnyder. «Diese Erfahrungen erschüttern grundlegend.
Viele Betroffene haben später Mühe, anderen Menschen zu vertrauen.» Das sei oft auch bei Kindern der Fall, die jahrelanger Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren: «Meist ist der Schaden in dieser besonders verletzlichen Lebensphase enorm, weil das Trauma auf einen Menschen in seiner Entwicklung trifft.»
Zu den Beschwerden einer langfristigen Traumafolgestörung gehören posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, chronische Schmerzen oder Depressionen.
Mögliche Folgen sind laut Schnyder auch Zwänge, Suchtkrankheiten oder Probleme im Sexleben, zum Beispiel nach einem sexuellen Missbrauch. Oft kommt es auch zu einem ungewollten Wiedererinnern im Alltag. Schnyder sagt: «Betroffene geraten in eine Situation, die dem Trauma ähnelt. So funkt der Schmerz aus der Vergangenheit unkontrolliert in das Leben hinein.»
Therapien konfrontieren mit dem Erlebten
Bei Roland Moser aus Uster ZH kam die Erinnerung an das Erlebte im Alter von 28 Jahren zurück: Damals trennte sich seine Freundin von ihm, während er mit einem Bänderriss im Spital lag. Er erinnert sich, dass all die Ängste aus seiner Kindheit schlagartig wieder da waren. «Ich lag hilflos im Bett und wurde gerade von einem Menschen verlassen, den ich liebte», erzählt Moser.
inige Wochen nach dem Spitalaufenthalt begann er mit einer Psychotherapie. Als junger Mann habe er damals realisiert: «Wenn ich mich nicht mit meiner Kindheit auseinandersetze, holt mich das Loch immer wieder ein.» Moser wurde Sozialpädagoge, arbeitete in Kinder- und Jugendheimen und gründete eine Familie.
Wie man die Kontrolle zurückerlangt
Gegen die Folgestörungen eines Traumas gibt es heute eine Vielzahl von psychotherapeutischen Methoden. Das Grundprinzip sei immer ähnlich, sagt Experte Ulrich Schnyder: «Therapeuten konfrontieren die Betroffenen mit dem traumatischen Ereignis.» Dadurch gewinne man Stück für Stück die Kontrolle über Gefühle, Gedanken und Handlungen zurück.
Das half auch Sandra Enderli beim Verarbeiten ihres Autounfalls: «In wenigen Treffen mit einer Psychologin sprach ich intensiv über den Unfall.» Heute könne sie wieder an der Unfallstelle vorbeifahren und werde nicht mehr von den Gefühlen überwältigt: «Meistens habe ich sie im Griff.»
Das Erlebte werde zwar nie ganz verschwinden, sagt dazu Psychiater Ulrich Schnyder. «Aber man lernt, das Leben zu geniessen, ohne immer wieder von traurigen oder schmerzhaften Gefühlen eingeholt zu werden.»
Auch dem Betroffenen Roland Moser ist das gelungen: «Ich staune manchmal selbst, wie gut ich trotz allem mein Leben gemeistert habe.» Bei Italo Ponzo führte die Therapie dazu, dass er weniger Schmerzen hat als früher. Zudem versöhnte er sich ein Stück weit mit dem, was ihm als Kind widerfahren war. Auch Sandra Enderli ist zuversichtlich: «Der Unfall wird immer ein Teil meines Leben bleiben. Aber irgendwann werde ich dieses Kapitel abschliessen können.»
Sandra Enderli, 52
«Ich dachte: Jetzt stirbst du»
«Im Januar war ich auf der Autobahn unterwegs, als plötzlich der Airbag meines Autos losging und mich in den Sitz presste. Ich dachte: Jetzt stirbst du. Ich war ruhig, dachte an meinen Partner und war gleichzeitig wütend über den nahenden Tod. Mein Auto stiess drei Mal gegen die Leitplanken und kam dann zum Stehen. Im Spital zeigte sich, dass drei Rippen gebrochen waren, der ganze Körper war blau.
Am Abend war ich bereits wieder zu Hause. Gut gelaunt informierte ich meinen Chef und teilte ihm mit, dass ich nach dem Wochenende wie gewohnt zur Arbeit kommen werde. Am nächsten Tag setzte ich mich wieder in ein Auto, denn ich wollte keine Ängste entwickeln.
Heute weiss ich: Das war zu früh. Als ich das Lenkrad sah, musste ich fürchterlich weinen. Mir dämmerte, dass mir etwas Schlimmes zugestossen war. In den folgenden vier Wochen verliess ich die Wohnung kein einziges Mal.»
Italo Ponzo, 59
«Meine Mutter peitschte mich aus»
«Mein Vater kam in den Siebzigerjahren als Saisonnier in ein kleines Dorf bei Neuenburg. Ich, meine Mutter aus Brasilien und mein Bruder lebten die ersten Jahre illegal in der Schweiz.
Als Italiener und eher femininer Bub wurde ich in der Schule und im Dorf gemobbt. Aber auch zu Hause war es schlimm. Mein cholerischer Vater wurde wegen jeder Kleinigkeit extrem wütend, und meine Mutter peitschte mich immer wieder mit dem Ledergürtel aus. Fehlverhalten sanktionierte sie gnadenlos.
Für uns Kinder war es unmöglich, etwas richtig zu machen. Einmal stopfte mir meine Mutter scharfe Chilischoten in den Mund, weil ich etwas Unerlaubtes erzählt hatte. Oder sie bestrafte mich mit Liebesentzug, indem sie tagelang schwieg. Bis auf den Vater waren wir alle bei den Zeugen Jehovas. Das war verstörend: Daheim gab es Schläge, danach wurde im Königreichsaal gebetet. Auch dort wurden wir Kinder geschlagen.»
Roland Moser, 67
«Ich hing drei Jahre lang an einer Seilrolle»
«Wegen eines verformten Hüftgelenks kam ich als Vierjähriger in die Kinderheilstätte Bad Sonder in Teufen AI. Dort fixierten mich Ordensschwestern mit Gurten ans Bett und hängten mir über eine Seilrolle Gewichte an die Beine. So sollten meine Hüftköpfe in die Gelenkpfannen zurückfinden.
Drei Jahre durfte ich das Bett einzig fürs WC und zum Duschen verlassen. Ich bin ich fast durchgedreht. Ich wurde auch sexuell missbraucht. Eine Ordensschwester badete uns Buben besonders gern, und ein Lehrer fasste regelmässig unter die Bettdecke.
Besonders schlimm war für mich das Gefühl, von der Familie verlassen worden zu sein. Meine Mutter, der Vater und meine Geschwister durften mich nur alle paar Monate besuchen. Beim Abschied schrie ich jeweils so bitterlich und laut, dass die Ordensschwestern mein Bett ins Bad schoben und die Tür schlossen.»
Tipps: Traumatisches Ereignis verarbeiten
- Trauma akzeptieren: Versuchen Sie zu akzeptieren, dass Sie etwas Traumatisches erlebt haben. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es kann jeden treffen. Kommen Emotionen und Erinnerungen hoch: Lassen Sie diese zu.
- Sich Zeit nehmen: Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen, wenn andere Ihr Problem kleinreden. Menschen benötigen unterschiedlich viel Zeit, um ein Trauma zu verarbeiten.
- Darüber sprechen: Ziehen Sie sich nicht zurück. Reden Sie mit Freunden und der Familie über das Erlebte. Helfen können auch Gespräche mit Leuten, die Ähnliches erlebt haben.
- Dem Körper Sorge tragen: Achten Sie darauf, dass Sie gesund essen, sich viel bewegen und genügend schlafen. Verzichten Sie auf Alkohol und nehmen Sie keine Medikamente, um das Trauma zu verdrängen.
- Hilfe holen: Suchen Sie professionelle Hilfe, wenn Sie es allein nicht schaffen – bei Ihrem Hausarzt, einer Beratungsstelle oder einer Psychologin. Oft helfen schon wenige Gespräche.
Anlaufstellen für Betroffene:
- Kriseninterventionszentren der Psychiatrischen Unikliniken: Zürich (Tel. 044 296 73 10), Bern (Tel. 031 632 88 11), Basel (Tel. 061 325 51 00)
- Die Dargebotene Hand, Tel. 143
- Kantonale Opferberatungsstellen, Opferhilfe-schweiz.ch
- Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858, Promentesana.ch
- Road Cross Schweiz, Tel. 044 310 13 13, Roadcross.ch