Der Nervenarzt sagte mir: «Zuerst gehen Sie mit Krücken, dann mit einem Rollator, dann müssen Sie in den Rollstuhl, und wenn Sie keine Luft mehr bekommen, müssen Sie ans Atemgerät.» Ich gehe noch nicht an Krücken, sondern erst an Wanderstöcken. Sprechen kann ich nur noch langsam. Vielleicht wird meine Zunge bald gelähmt sein. Seit vier Jahren lebe ich nun mit der Diagnose amyotrophe Lateralsklerose (ALS, siehe Kasten). Die Nervenkrankheit gilt als unheilbar.
Ich akzeptiere, dass ich ALS habe – aber nicht, dass diese Krankheit ein Todesurteil ist. Ich glaube nicht, dass es eine Krankheit gibt, die grundsätzlich unheilbar ist.
Ich bin überzeugt, dass ich mit meiner Psyche den Krankheitsverlauf beeinflussen kann. Deshalb mache ich eine Übung namens «Healing Code». Dabei stelle ich mir zum Beispiel ganz genau vor, wie ich gesund um den Hallwilersee gehe. Das gibt mir Energie und stärkt die Selbstheilungskräfte.
Zwei Mal pro Woche gehe ich in die Physiotherapie. Das hilft mir sicher, dass sich meine Muskeln nicht so stark zurückbilden. Ich marschiere auch jeden Tag auf unseren Hausberg – auch wenn ich dabei hinke. Ausserdem nehme ich homöopathische Mittel. Ich merke, wie davon immer wieder Energieschübe kommen.
Der Arzt sagt, die Krankheit verlaufe bei mir sehr langsam. Trotzdem beschäftige ich mich mit dem Tod. Das ist nichts Neues für mich: Ich bin reformierter Theologe und habe viele Abschiedsfeiern geleitet. Auch in meinen Gedichtbänden habe ich mich mit dem Tod auseinandergesetzt – bereits in den Texten, die ich vor meiner Diagnose geschrieben habe. Der Tod gehört für mich zum Leben.
Die Ärzte boten mir ein Medikament an, das mein Leben um drei Monate verlängern könnte. Ich sagte: Die schenke ich euch. Ich finde, man muss sich nicht so wichtig nehmen. Wenn ich sterbe, dreht sich die Welt weiter.
Lieber versuche ich, im Moment zu leben. Ich fühle mich getragen von den Beziehungen zu meiner Frau, zu meiner Tochter und zu meinen Freunden. Dass der Tod näher gerückt ist, gibt unseren Gesprächen eine grössere Intensität. Wir reden nicht nur über belanglose Dinge wie das neueste Smartphone. Auch mein Humor hilft mir in vielen Situationen, obwohl er zuweilen etwas schwarz ist, das gebe ich zu.
Ich vertraue darauf, dass ich in all dem getragen bin. Man könnte das als Gottvertrauen bezeichnen oder als Vertrauen in die Natur, in die Lebenskraft oder die Liebe. Man muss nur um sich schauen und Wunder entdecken. Sogar zwischen dem Kies wachsen neue Pflanzen, überall ist Leben, im Gleichgewicht mit dem Sterben.
In der westlichen Kultur muss man immer Ziele vor Augen haben. Seit ich nicht mehr arbeiten kann, bin ich in der privilegierten Situation, mir keine Ziele mehr setzen zu müssen. Ich kann zweckfrei leben, muss nichts mehr leisten. Das hat für mich einen grossen Reiz.
Amyotrophe Lateralsklerose ist unheilbar
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine irreversible Krankheit der Nerven. Die Ursache ist unklar. Die Krankheit greift Hirn, Rückenmark sowie Nerven an, welche die Muskeln steuern. Die Signale aus dem Hirn kommen nicht mehr bis zu den Muskeln. Die Kraft geht deshalb mit der Zeit verloren. Der Herzmuskel bleibt jedoch verschont.
ALS ist eine seltene Krankheit. Bekannt wurde sie durch den britischen Astrophysiker Stephen Hawking. Er starb vor zwei Jahren. Hawking litt an einer Form, die schon in der Jugend auftritt und sehr langsam verläuft.
Information und Beratung: www.als-schweiz.ch