Lilly Jäger litt während Jahrzehnten unter Migräne: «Besonders schlimm war es nach der Menopause», erinnert sich die heute 74-Jährige aus Hinwil ZH. Die pochenden Kopfschmerzen und die starke Übelkeit kamen mindestens jeden dritten Tag. Jäger musste regelmässig Schmerzmittel nehmen, um im Beruf und zu Hause weiterfunktionieren zu können.
Lilly Jäger ist kein Einzelfall: Rund jede zehnte Person in der Schweiz leidet an Migräne, Frauen sind drei Mal so oft betroffen wie Männer.
Für die Pharmafirmen ist das ein gutes Geschäft. Sie haben in den letzten zwei Jahren gleich drei neue Medikamente gegen Migräne auf den Markt gebracht: erst Aimovig, dann Ajovy und Emgality. Weitere sollen folgen.
Die Mittel wirken alle nach dem gleichen Prinzip: Sie blockieren einen Botenstoff im Gehirn, der die Gefässe erweitert und beim Entstehen von Migräne eine Rolle spielt. Die Medikamente sollen die Zahl der Kopfwehattacken vermindern. Doch die neuen Spritzen sind enorm teuer: Pro Jahr kosten sie rund 7000 Franken (siehe Tabelle im PDF).
Die Medien feierten diese neuen Medikamente als «Revolution» und «Meilenstein». Im deutschen Fernsehen war gar von der «Wunderspritze gegen Migräne» die Rede.
Doch unabhängige Fachleute wie der deutsche Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser raten zu Zurückhaltung. Er sagt: «Bis heute ist unklar, ob diese neuen Spritzen besser wirken als bisherige Medikamente.» Dazu gehören etwa Betablocker oder Epilepsiemedikamente. Laut Becker-Brüser weisen Vergleiche darauf hin, dass die Spritzen die Zahl der Migräneattacken etwa in gleichem Masse vermindern wie Betablocker.
Doch bei den Kosten unterscheiden sich die Mittel gewaltig: Betablocker kosten gerade einmal 180 Franken pro Jahr – fast 40 Mal weniger als die Spritzen.
Neue Spritzen wirken längst nicht bei allen
Immerhin verursachen die Spritzen nur wenig Nebenwirkungen. Dazu gehören vor allem Schmerzen oder Juckreiz an der Einstichstelle. Welche Folgen die Medikamente langfristig haben, ist jedoch noch unklar.
Migräne-Spezialist Hartmut Göbel von der Schmerzklinik in Kiel (D) rät, die neuen Spritzen nur dann einzusetzen, wenn Patienten häufig an Migräne leiden und bereits die anderen zugelassenen Medikamente ohne Erfolg ausprobiert haben.
So wie Patientin Lilly Jäger. Kein Medikament und keine Therapie hatten ihr geholfen: «Ich habe alles versucht, von Botox über Massagen bis zu Betablockern und Migräne-Mitteln.» Als sie von dem neuen Medikament Aimovig las, wollte sie es ausprobieren. Ein Jahr lang bekam sie jeden Monat eine Spritze in den Oberschenkel. Mit Erfolg: «Seither habe ich noch höchstens zwei, drei Mal pro Monat eine ganz leichte Attacke.»
Lilly Jäger hatte Glück. Denn Fachleute gehen davon aus, dass nur etwa drei bis vier von zehn Patienten auf die Spritzen ansprechen. Hartmut Göbel: «Wer das ist, kann man bislang nicht vorhersagen.» Man müsse bei jedem einzelnen testen, ob sie wirken. Zudem dürfe man nicht erwarten, dass die Spritzen die Migräne heilen.
Es gibt diverse wirksame Alternativen
Neben den teuren Spritzen gibt es eine ganze Reihe weiterer Mittel gegen Migräne. Gut nachgewiesen ist, dass Betablocker und das Blutdruckmittel Sibelium vor den Attacken schützen. Allerdings machen sie oft müde und führen zu Schwindel oder Gewichtszunahme. Nicht geeignet sind diese Medikamente unter anderem bei Patienten mit schwachem Herz.
Wirksame Alternativen sind auch das Antidepressivum Saroten und Epilepsiemittel wie Convulex und Topamax. Diese haben allerdings ebenfalls unangenehme Nebenwirkungen. Dazu gehören Zittern und Haarausfall. Zudem dürfen Frauen in der Schwangerschaft auf keinen Fall Medikamente mit dem Wirkstoff Valproinsäure einnehmen. Das sind etwa Convulex oder Depakine. Valproinsäure kann den Fötus schädigen.
Weniger klar ist hingegen, wie gut Botox vor Migräneattacken schützt. Der Arzt spritzt das Nervengift an mehreren Stellen in Kopf und Nacken. Die Fachleute des unabhängigen Forschernetzwerks Cochrane in Österreich haben die Studien geprüft und kamen zum Schluss, dass Botox die Zahl der Migränetage pro Monat nur um zwei Tage reduziert, und dies auch nur bei Patienten mit starken Migräneanfällen.
In leichteren Fällen können Patienten auch Präparate mit Magnesium, Vitamin B2 oder Coenzym Q10 ausprobieren. Laut der deutschen Gesellschaft für Neurologie gibt es zwar lediglich Hinweise, dass sie die Migräne lindern. Schwerwiegende Nebenwirkungen braucht man jedoch nicht zu befürchten. Magnesium kann allenfalls zu Durchfall führen.
Novartis schreibt, dass Patienten Aimovig gut vertragen würden. Das Medikament reduziere die Zahl der Migräneanfälle bei 40 bis 50 Prozent der Patienten um mehr als die Hälfte. Die Arzneimittelbehörde Swissmedic habe bestätigt, dass Aimovig wirke.
Hersteller Teva Pharma schreibt, dass in einer ihrer Studien nach über einem Jahr fünf bis sechs von zehn Patienten auf Ajovy ansprachen. Nebenwirkungen an der Einstichstelle seien meist gering. Verstopfung komme bei Ajovy kaum vor.
Tipps für Leute mit Migräne
Schlafen und essen Sie immer ungefähr zur gleichen Zeit, auch am Wochenende.
Bewegen Sie sich regelmässig, zum Beispiel mit Schwimmen, Velofahren oder Wandern.
Vermeiden Sie Stress. Sagen Sie Nein, wenn es Ihnen zu viel wird.
Führen Sie ein Migränetagebuch. So finden Sie heraus, was die Attacken auslöst.
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