Frau Meyer Kunz, hat die Corona-Zeit Sie verändert?
Ja. Das Virus hat mich gelehrt, dass auch die Stärksten und Gesündesten plötzlich lebensbedrohlich krank sein können. Es hat mir gezeigt, dass wir alle verletzlich sind.
Wie erleben Sie das im Spital?
Patienten haben oft Angst vor der Krankheit, vor dem Alleinsein oder vor dem Tod. In solchen Fällen gehen wir zu ihnen, sprechen über ihre Sorgen, versuchen zu trösten und machen Mut.
Wie geht das mit Maske und Schutzkleidung?
Es ist schwieriger als zuvor. Die Arbeit als Seelsorger lebt eigentlich von der Begegnung. Dazu gehört, dass wir Patienten berühren, dass wir ihre Hand halten oder sie in Trauersituationen in die Arme schliessen. Das ist wegen Corona alles nicht möglich.
Was machen Sie mit Patienten auf der Intensivstation?
Ich überbringe in Schutzkleidung Sprachnachrichten und Musikstücke, die Angehörige mir geschickt haben, und spiele sie den Patienten vor. Auch Sterbende habe ich begleitet. Die Patienten dort sind meist künstlich beatmet und durch Schmerzmittel ruhiggestellt. Sie dürfen nur sehr eingeschränkt Besuch empfangen.
Können Angehörige Abschied nehmen?
Ja. Mit Schutzkleidung können sich alle Angehörigen von ihren Lieben verabschieden.
Wie unterstützen Sie die Angehörigen?
Ich rede mit ihnen und spreche ihnen Mut zu. Manche möchten eine Kerze in der Kirche anzünden, ein Ritual durchführen oder gemeinsam beten. Wenn ein Patient stirbt, bin ich auch nachher noch für sie da.
Was tun Sie bei weniger schweren Fällen?
Auf allen Stationen sind Covid-Patientinnen und -Patienten isoliert und dürfen keinen Besuch empfangen. Zusammen mit dem Spitalpersonal sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger die einzigen Menschen, die sie zu sehen bekommen. Für die isolierten Patienten kann unser Besuch sehr tröstlich sein.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich begleitete eine schwangere Frau, die am Virus erkrankt war. Sie hatte hohes Fieber. Ausserdem war sie sehr traurig, dass sie ihre kleine Tochter und ihren Mann nicht sehen konnte. Manchmal sang ich ihr Kinderlieder für ihr ungeborenes Kind vor. Wir sprachen über ihre Familie, ich sass an ihrem Bett und war einfach da. Sie ist am Ende wieder gesund geworden.
Sie leisten seelische Unterstützung für andere. Wie verarbeiten Sie selbst das Erlebte?
Meine Familie fängt mich auf. Ausserdem suche ich regelmässig die Stille und bete. So kann ich die manchmal sehr nervenaufreibenden Erlebnisse verarbeiten.
Zur Person: Susanna Meyer Kunz
Susanna Meyer Kunz ist reformierte Pfarrerin und ausgebildete Notfallpsychologin. Bereits seit 15 Jahren arbeitet sie als Spitalseelsorgerin. Aktuell leitet die 54-Jährige das Seelsorgeteam im Universitätsspital Zürich. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Zillis GR.