Ein Jahr lang nahm Salome Balasso Deroxat. Sie litt an einer Depression und an Angststörungen. Wegen Nebenwirkungen setzte sie das Mittel ab. «Ein Arzt sagte mir, es gebe keine Entzugserscheinungen», erinnert sich die 31-Jährige aus Köniz BE. Doch nachdem sie das Medikament abgesetzt hatte, spürte sie immer wieder Stromschläge im Kopf. «Die Schläge waren so stark, dass ich mich hinsetzen musste», sagt Salome Balasso. Ihr war schwindlig, und nachts war sie unruhig und schlief schlecht. Die Beschwerden hielten mehrere Wochen an.
So wie Salome Balasso geht es vielen Patienten. Das belegte der Psychiater Michael P. Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in einer Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift «Therapeutic Advances in Psychopharmacology» erschien. Er untersuchte die Berichte von rund 70 Betroffenen. Hengartner fand heraus: Die Entzugserscheinungen dauern häufig monate- oder jahrelang. Dazu zählen Beschwerden wie Kopfweh, Schlafstörungen, Angst, Depressionen und Suizidgedanken. Laut Hengartner sind Medikamente wie Deroxat und Zoloft für rund 80 Prozent der Entzugserscheinungen verantwortlich. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten SSRI. Diese erhöhen die Konzentration des «Glückshormons» Serotonin im Gehirn und sollen so die Stimmung heben.
Entzugserscheinungen in jedem zweiten Fall
Vor zwei Jahren zeigte eine britische Studie mit über 4000 Patienten: Mehr als die Hälfte der Patienten ist von Entzugsproblemen betroffen. Grund dafür sei, dass sich das Gehirn auf den Wirkstoff der Medikamente einstellt und irritiert reagiert, wenn dieser wegfällt, erklärt Hengartner. Dennoch würden viele Psychiater das Risiko für Entzugserscheinungen und den Schweregrad immer noch «massiv unterschätzen», kritisiert Hengartner. Die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression schreibt auf ihrer Internetseite, die Antidepressiva würden nicht abhängig machen. Man könne sie «problemlos» monate- oder jahrelang einnehmen. Der deutsche Depressionsforscher Peter Ansari sagt: «Die allermeisten Psychiater verleugnen das Problem vehement.» In seinem Buch «Unglück auf Rezept» führt Ansari dies auf «geschickte Propaganda» der Hersteller zurück. Auch der Berliner Psychiater Tom Bschor, Autor eines Ratgebers über Anti-depressiva, sieht das kritisch: «Das Verschweigen von Problemen führt viel eher dazu, dass Patienten Medikamente ablehnen, als wenn die Ärzte offen über Probleme sprechen.»
Psychiater glauben den Patienten nicht
Ansari kritisiert, viele Psychiater würden den Berichten ihrer Patienten nicht glauben, weil diese den Aussagen der Pharmavertreter widersprechen. Es sei mühevoll, die Patienten beim Absetzen zu betreuen. Viel einfacher sei es für die Ärzte, Absetzerscheinungen als Rückfall in die Depression zu betrachten.
So erging es der 55-jährigen Mirjam Wittwer aus Bözen AG. Nach dem Absetzen der Cymbalta-Kapseln spürte sie Stromstösse im ganzen Körper. «Als diese Beschwerden nach drei Wochen immer noch andauerten, sagte mein Psychiater, sie könnten nicht vom Absetzen des Medikaments stammen», so Wittwer. Der Psychiater schlug ihr vor, das Medikament wieder zu nehmen. Das wollte Mirjam Wittwer aber nicht. Nach zwei Monaten verschwanden die Stromstösse.
Das Gefühl von Stromstössen ist laut der Zeitschrift «Arznei-Telegramm» ein typisches Entzugssymptom solcher Medikamente. Bei anderen Beschwerden wie Depressionen ist es schwieriger, Entzugssymptome von Anzeichen eines Rückfalls zu unterscheiden. Peter Ansari erklärt: Wenn solche Beschwerden in einer gesunden, stabilen Phase und innerhalb weniger Tage nach dem Absetzen schlagartig auftreten, könne man sicher sein, dass es sich um Entzugsfolgen handle.
Die Pharmafirma GSK, Hersteller des Medikaments Deroxat, entgegnet, Absetzsymptome würden oft innerhalb von zwei Wochen von selber abklingen. Das habe auch die britische Studie gezeigt. Hersteller Eli Lilly sagt, seine Medikamente Cymbalta und Fluctine hätten ein günstiges Risiko-Nutzen-Profil. Die Firma Lundbeck, die Cipralex und Seropram herstellt, schreibt in einer Stellungnahme, viele Studienteilnehmer hätten die Medikamente entgegen der Empfehlungen im Beipackzettel abrupt abgesetzt. Beschwerden nach dem Absetzen seien kein Beweis dafür, dass Antidepressiva abhängig machen.
So vermeiden Sie Probleme beim Absetzen
Behandeln Sie leichte Depressionen nicht mit Antidepressiva, sondern mit Psychotherapie oder mit sanften Mitteln wie Johanniskraut.
Setzen Sie Antidepressiva nicht auf eigene Faust ab, sondern nur in Absprache mit Ihrem Arzt.
Informieren Sie Ihr soziales Umfeld darüber, dass Sie nach dem Absetzen möglicherweise monatelang unter Beschwerden leiden.
Reduzieren Sie die Dosis langsam und in kleinen Schritten. Bei Mitteln wie Citalopram muss man die Menge immer wieder halbieren, bei Medikamenten wie Paroxetin in 10-Prozent-Schritten reduzieren.
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