Gibt es in einem Gespräch Spannungen, falle ich oft in eine Art Apathie. Innerlich bin ich völlig weg. Die anderen können mich nicht mehr erreichen. Meistens geschieht das mit Menschen, die mir sehr nahe stehen, mit meinem Partner oder mit Freunden. Bei ihnen bin ich am verletzlichsten.
Manchmal fühle ich mich leer. Dann passiert das Gegenteil: Meine Gefühle überwältigen mich. Ich spüre starke Wut, komplette Hilflosigkeit, extreme Trauer.
Mit diesem Auf und Ab der Gefühle ging ich in meiner Jugend nicht gut um: Ich hatte eine Essstörung, missbrauchte Medikamente und ritzte mich in die Arme. Mehrmals wollte ich mir das Leben nehmen. Im Spital war ich Stammgast. Die Psychiater stellten verschiedene Diagnosen, als wichtigste das Borderlinesyndrom.
Das hat vor allem mit meiner Kindheit zu tun. Ich wuchs bei meiner Mutter zusammen mit meinem acht Jahre älteren Bruder auf. Ich hatte kein sicheres Zuhause: Meine Mutter dealte mit Gras und Hasch. Mein Vater lebte nicht mehr bei uns, besuchte uns aber oft. Er nahm Drogen und war Alkoholiker. Beide lebten von der Sozialhilfe.
Bei uns zu Hause war immer Party. Meine Eltern und ihre Gäste kifften und tranken, dazu hörten sie laute Musik. Oft konnte ich nicht einschlafen oder erwachte, weil es so stank. Nicht selten eskalierte die Party und es kam zu handfestem Streit unter den Erwachsenen.
Ich musste früh selbständig sein. Am Morgen stand ich allein auf und machte mich für die Schule fertig. Wenn ich zum Zmittag heimkam, schlief meine Mutter meistens noch. Wenn sie am Nachmittag erwachte, war sie oft aggressiv, schrie mich an und manchmal schlug sie mich auch. Ich entwickelte einen grossen Hass auf sie, unterdrückte ihn aber. Irgendwann spürte ich gar nichts mehr.
Als ich 14 war, starb mein Vater. Endlich durfte ich ins Heim. Ich war zuerst sehr glücklich dort und besuchte das Gymnasium. Doch nach sechs Monaten brach ich komplett zusammen. Wohl, weil ich begann, alles zu realisieren.
Heute gehe ich regelmässig zu einem Psychiater. Ich versuche, gesunde Wege zu finden, wenn ich mit meinen Gefühlen nicht zurechtkomme. Was mir hilft, ist Krafttraining. Wenn ich jetzt wütend bin, stemme ich Hanteln, statt mich zu ritzen. Ich koche auch gern und bin mit Freunden zusammen. Inzwischen kann ich viel offener mit Leuten sprechen und sagen, was ich brauche. Das musste ich lernen.
Im Herbst beginne ich mein Studium in Ernährung und Diätetik. Das finanziere ich mit meiner Halbwaisenrente und mit Ergänzungsleistungen.
Ich nahm aus meiner schwierigen Kindheit auch Positives mit. Sie hat mich stark gemacht. Zudem habe ich ein feines Gespür, wie es anderen gerade geht. Ich möchte weiter an mir arbeiten und hoffe, dass ich eines Tages ganz unbeschwert leben kann. Ich will mein Leben mehr geniessen können und weniger mit mir selbst kämpfen müssen.
Borderline: Leben zwischen den Extremen
Im einen Moment fühlen sie sich komplett leer – im nächsten überwältigen sie die Gefühle. Ihre Gefühlswelt können sie oft nicht gut kontrollieren. Manchmal bringt nur körperlicher Schmerz Entspannung. Deshalb ritzen sich viele die Arme auf oder bringen sich auf andere Weise in Gefahr, etwa durch Drogen, riskantes Autofahren oder Essstörungen.Patienten haben auch oft Probleme, stabile Beziehungen zu führen. Aus Angst, verlassen zu werden, brechen sie häufig selbst Beziehungen ab. Viele Borderlinepatienten haben Traumatisches erlebt: Gewalt, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung.
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Promentesana.ch, Vask.ch