Jahrelang arbeitete er sieben Tage pro Woche. Doch im Frühling vor fünf Jahren waren seine Batterien leer. Der Informatik-Fachmann Christian Salzmann (Name geändert) sagt: «Ich war plötzlich sehr erschöpft und depressiv. Zuerst dachte ich, ich könne die Müdigkeit überwinden. Aber es wurde immer schlimmer.» Der 64-Jährige besuchte eine Gesprächstherapie und nahm Antidepressiva ein. Ab Mitte Juni 2013 war er zu 100 Prozent krankgeschrieben. Während dieser Zeit bezog er Krankentaggelder von der Innova-Versicherung.
Detektive machten Dutzende Fotos
Was der Patient nicht wusste: Die Versicherung setzte Privatdetektive auf ihn an. Sie bespitzelten den Informatiker fast zwei Monate lang und machten Dutzende Fotos. Zeitweise kreuzten sie fast täglich vor seiner Wohnung auf. Das zeigt der 50 Seiten umfassende «Ermittlungsbericht» der Detektive. Sie beobachteten Christian Salzmann beim Tennisspielen und beim Mittagessen in einem Restaurant. In ihrem Bericht schrieben die Detektive, der Patient sei gesund, sie hätten keine Anzeichen für Depressionen erkannt. Salzmann habe «ruhig, ausgeglichen und heiter» gewirkt. Beim Tennisspielen habe er «wiederholt geschmunzelt und gelacht».
«Sie behandelten mich wie einen Verbrecher»
Für den Informatiker hatte die Bespitzelung schwerwiegende Folgen: Die IV-Stelle Zürich lehnte im September 2014 sein Gesuch für eine IV-Rente ab. Denn die Innova-Versicherung hatte den Bericht der Privatdetektive auch der IV-Stelle gegeben. Diese schrieb dem Informatiker, die Überwachung durch die Detektive habe «keine psychischen und körperlichen Einschränkungen» gezeigt. Salzmann könne wieder im vollen Pensum arbeiten. Die Innova-Versicherung war offenbar nicht ganz sicher, ob die Überwachung korrekt war. Denn sie legte dem Patienten Ende 2013 einen Vergleich vor. Darin steht, dass sie den Vertrag kündige und ihm keine weiteren Taggelder mehr zahle. Gleichzeitig verzichtete die Innova darauf, die Rückzahlung der bereits geleisteten Taggelder zu verlangen.
Christian Salzmann war schockiert, als er erfuhr, dass ihn die Privatdetektive monatelang bespitzelt hatten. «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass eine Versicherung Kranke überwacht», sagt er. Die Innova habe ihn «wie einen Verbrecher» behandelt, obwohl er jahrzehntelang Prämien gezahlt hatte.
Auch Sozialversicherungen wie die IV wollen wieder Detektive einsetzen (siehe Unten). Juristen kritisieren die Schnüffelei. So sagt der Luzerner Rechtsanwalt und Versicherungsexperte Christian Haag: «Ein Privatdetektiv, der sich hinter einer Hecke versteckt, kann Anzeichen einer Depression nicht erkennen.» Die Aussagen der Privatdetektive, dass der Patient entspannt und fröhlich wirke, seien einseitig und oberflächlich.
Und der Rechtsanwalt Volker Pribnow aus Baden AG erklärt: «Auch eine psychologisch geschulte Fachperson könnte aufgrund von Beobachtungen aus der Distanz keine zulässigen Aussagen darüber machen, wie gesund oder krank jemand ist.» Das sei nur möglich im Rahmen einer sorgfältigen medizinischen Abklärung. Die IV dürfe eine Rente nicht verweigern, nur weil ein Privatdetektiv Verhaltensweisen dokumentiere, die im Widerspruch zu den Angaben der versicherten Person stünden.
«Versicherungen hebeln Arztbefunde aus»
Die Psychiaterin Doris Brühlmeier aus Schlieren ZH hat Christian Salzmann behandelt. Sie sagt, es sei nicht von aussen sichtbar, ob jemand an einer psychischen Krankheit leidet. Zudem verringert die Wirkung der Medikamente laut Brühlmeier die Anzeichen einer Depression. Sie gibt zu bedenken: «Depressionen verlaufen oft wellenförmig. Wenn jemand Tennis spielen kann und dabei gut gelaunt ist, bedeutet das nicht, dass er wieder arbeiten kann.»
Doris Brühlmeier wirft den Versicherungen vor, sie würden mit den Detektiven die Untersuchungen der behandelnden Ärzte aushebeln. Damit würden sie kranke Menschen um Leistungen bringen, die ihnen zustehen. Vielen Patienten fehle die Kraft, um sich dagegen zu wehren: «Das nützen die Versicherungen knallhart aus.» Bei Christian Salzmann habe die Bespitzelung den Heilungsprozess verzögert: «Als der Patient erfuhr, dass ihn die Detektive wochenlang überwacht hatten und er keine Taggelder mehr erhält, erlitt er einen Rückschlag.»
Das Bundesamt für Sozialversicherungen sagt, die Versicherungen seien verpflichtet, abzuklären, ob Patienten zu Recht Leistungen beziehen. Privatdetektive seien nur eingesetzt worden, wenn ein begründeter Verdacht mit anderen Mitteln nicht abgeklärt werden konnte. Die Aufgabe der Detektive sei, Beweise für einen vermuteten Missbrauch zu suchen und zu dokumentieren. Anschliessend würden die IV-Stellen beurteilen, ob die Beweismittel einen Missbrauch rechtlich schlüssig belegen. Die IV-Stelle Zürich teilt mit, die Privatdetektive hätten die Arbeitsfähigkeit von Christian Salzmann «umfassend dokumentiert». Aus diesem Grund habe die IV-Stelle auf ein eigenes ärztliches Gutachten verzichtet. Die Stelle sagt, sie hätte das Gesuch um Leistungen auch ohne das Material der Detektive abgelehnt.
Die Innova-Versicherung sagt, die Detektive hätten den Auftrag, ihre Beobachtungen «sachlich und objektiv» festzuhalten. Die Vertrauensärzte der Versicherung müssten die Beobachtungen der Detektive im Zusammenhang mit Diagnose und Arztberichten aus medizinischer Sicht einschätzen.
Abstimmung über Sozialversicherungsdetektive
Sozialversicherungen wie die Invalidenversicherung (IV) wollen Versicherte mit Privatdetektiven überwachen. Deshalb will der Nationalrat das Sozialversicherungsgesetz ändern. Am 25. November entscheidet das Schweizer Stimmvolk über die Vorlage.
Viele Patientenorganisationen empfehlen ein Nein – so die Stiftung Pro Mente Sana für psychisch Kranke oder die Behindertenorganisationen Pro Infirmis, Fragile Suisse und Procap.