Die Firma Burgerstein schürt im Internet Ängste: Die Böden der Alpenländer hätten zu wenig Selen. Es sei «schwierig» für den Körper, übers Essen genug Selen zu bekommen. Burgerstein hat für das Problem eine Lösung bereit: das Präparat «Selenvital». Die Packung mit 100 Tabletten an 55 Mikrogramm Selen kostet 18 Franken. Es sei «besonders geeignet» zur Spermienbildung, für Haare und Nägel und für das Immunsystem. Apotheken, Drogerien und Grossverteiler verkaufen weitere Präparate mit Selen – zum Beispiel «Abwehr aktiv» von Doppelherz oder «Selen 55» von Pure Encapsulations.
Experten kritisieren die Werbeversprechen. Präventivmediziner David Fäh von der Berner Fachhochschule sagt: «Die Schweizer Bevölkerung nimmt genug Selen über das Essen auf.» Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit kam 2010 zum Schluss, dass die Schweizer mit dem Essen täglich durchschnittlich über 60 Mikrogramm Selen zu sich nehmen. Und das reicht aus. Studien aus bestimmten Regionen in China und Russland zeigen: Erst wer über längere Zeit weniger als 20 Mikrogramm pro Tag aufnimmt, kann seinem Körper schaden. Herzkrankheiten und Gelenkknorpelschäden können die Folgen sein.
Zwar enthalten die Schweizer Böden tatsächlich nicht viel Selen. Doch das spiele zumindest bis jetzt keine wesentliche Rolle, sagt der Zürcher Arzt und Magen-Darm-Spezialist Hans Kaspar Schulthess. Ein Grund: Schweizer essen viele Lebensmittel aus dem Ausland. Stéphanie Bieler von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung sagt: «Eine der wichtigsten Selenquellen in der Schweiz sind Teigwaren aus US-amerikanischem Hartweizen.» Die meisten Teigwaren, die man in der Schweiz herstellt, sind aus solchem Weizen. Auch Fleisch, Fisch, Steinpilz und Eier enthalten viel Selen (siehe Tabelle im PDF). Denn dem Tierfutter in der Schweiz ist Selen beigemischt. Hans Kaspar Schulthess sagt deshalb: «Für Gesunde bringen Selen-Präparate keinen Nutzen.»
Zu viel Selen erhöht Risiko für Prostatakrebs
Auch Vegetarier und Veganer können getrost auf solche Präparate verzichten. David Fäh: «Tofu enthält fast so viel Selen wie Fleisch.» Zudem sind Pilze, Paranüsse oder Kokosnüsse gute Selenquellen und auch für Veganer geeignet.
Manche Verkäufer preisen Selen gar als Mittel gegen Krebs an. So schrieb die Internetapotheke Vitaminplus.ch auf ihrer Website, dass gewisse Krebsarten in Regionen, wo die Böden viel Selen enthalten, weniger oft vorkommen würden. David Fäh relativiert dies: «Das heisst noch lange nicht, dass der tiefe Selengehalt der Böden für die Krebsfälle verantwortlich ist.» Im Gegenteil: Zu viel Selen kann Krebs auslösen. Das zeigt eine 2018 veröffentlichte Studie des Forschernetzwerks Cochrane. Die Autoren fanden heraus, dass Selen-Präparate das Risiko für Prostatakrebs erhöhen.
Aufgrund der Recherchen des Gesundheitstipp entfernte Vitaminplus.ch die Anpreisungen gegen Krebs im Internet. Die Firma räumt ein, dass sie keine Studien kenne, «die diese Aussagen belegen».
Wer zu viel Selen schluckt, riskiert weitere Nebenwirkungen. Das «Deutsche Ärzteblatt» berichtete 2018 über eine Frau in Grossbritannien: Sie hatte sechs Monate lang täglich mehrere Tabletten mit je 200 Mikrogramm Selen geschluckt, um ihr Immunsystem zu stärken. Mit schweren Seh- und Gedächtnisstörungen kam sie ins Spital. Erst als sie die Tabletten absetzte, ging es ihr langsam besser. Doch ihr Gehirn trug bleibende Schäden davon. Zu viel Selen erhöht auch das Risiko für Diabetes und Hautkrankheiten.
Experten sind sich einig: Selen-Präparate sind nur sinnvoll bei bestimmten Krankheiten. Leute mit Essstörungen oder Alkoholiker bekommen wenig Selen, weil sie zu wenig essen. Und Patienten mit Darmkrankheiten wie Zöliakie oder Morbus Crohn verwerten das Selen aus dem Essen nicht gut. David Fäh rät aber auch ihnen, nicht grundlos Tabletten zu schlucken – sondern erst ihr Blut bei einem Arzt zu testen: «Patienten sollten nur so viel Selen schlucken, wie sie wirklich brauchen – und nur so lange wie nötig.»
Pure Encapsulations schreibt dem Gesundheitstipp: Leute, die auf Weizen oder tierische Produkte verzichten, hätten «möglicherweise» keine ausreichende Zufuhr an Selen. Der Selengehalt der Böden in der Schweiz spiele zunehmend eine Rolle, weil Schweizer immer mehr regionale Produkte essen würden.