Regina Christen aus Bolligen BE ist rund um die Uhr im Einsatz. Die 60-Jährige pflegt ihren Ehemann. Er hat eine frühe Form von Demenz. Am Anfang fuhr sie ihn zum Arzt, weil er nach der Diagnose den Führerschein abgeben musste. Als er nicht mehr wusste, was bei den Hosen vorne und was hinten war, half sie ihm auch beim Anziehen. Heute kann er nicht mehr gehen und ist voll pflegebedürftig.
Das habe schöne Seiten, sagt Regina Christen: «Ich war ihm noch nie so nahe wie jetzt.» Doch sie hat noch andere Aufgaben: Sie hütet einmal pro Woche ihr Enkelkind, hilft ihren Eltern und verteilt für die Spitex Mahlzeiten.
Auch die 44-jährige Zürcherin Sibylle Maag ist voll eingespannt: Sie pflegt ihre Mutter, die an der Nervenkrankheit Multiple Sklerose leidet. Die Mutter braucht einen Rollstuhl und hat Probleme mit der Feinmotorik. Maag besucht sie zwei- bis dreimal am Tag. Sie bringt ihr Essen, hilft im Haushalt, beim Duschen und beim Anziehen. «Ich hatte immer eine enge Beziehung zu ihr und liebe es, für sie da zu sein», sagt sie. Geht Maag aus dem Haus, warten andere Aufgaben: Sie ist Mutter von zwei Schulkindern und arbeitet 50 Prozent in der Firma ihres Mannes.
Die beiden Frauen sind keine Einzelfälle: Vier von zehn pflegebedürftigen Senioren in der Schweiz werden durch ihre Angehörigen betreut. Das zeigen Schätzungen von Pro Senectute, der schweizerischen Stiftung für das Alter. Leute, die ihre Angehörigen pflegen, tun das teilweise bis zur Erschöpfung, bezahlt werden sie selten.
Ständige Überlastung gefährdet die Gesundheit
Fachleute warnen. Jacqueline Wettstein, Sprecherin Alzheimer Schweiz, sagt: «Angehörige laufen Gefahr, durch stete Überlastung selber krank zu werden.» Eine belgische Übersichtsstudie aus diesem Jahr zeigt auf: Leute, die Angehörige pflegen, berichten öfter von seelischer Erschöpfung. Die Forscher werteten fast 100 Studien aus. Das Resultat erschien in der Zeitschrift «Psychology Health & Medicine».
Auch Regina Christen sagt: «Ich kam an meine Grenzen.» Als ihr Mann schlecht einschlief, in der Nacht mehrmals erwachte und umherirrte, machte auch sie kein Auge zu. Sibylle Maag kennt solche Momente. Zwei Haushalte, die Kinder, ihre Arbeit, die Pflege – «manchmal wird mir alles zu viel», sagt sie. Die schönen Momente würden ihr aber wieder Kraft geben.
Für viele Betroffene ist dies der einzige Lohn. Denn die Betreuung von Angehörigen ist schlecht oder gar nicht bezahlt. Zahlen von Alzheimer Schweiz zeigen dies eindrücklich. Angehörige leisten unbezahlte Arbeit in der Höhe von geschätzten 5 Milliarden Franken. Alexander Widmer, Leiter Politik bei Pro Senectute Schweiz, warnt: «Die Pflege von Angehörigen erhöht das Risiko für Altersarmut.»
Als Regina Christens Mann mehr Betreuung brauchte, musste sie ihre 60-Prozent-Stelle kündigen. Damit brach auch ihr Einkommen von rund 3000 Franken weg. Seit kurzem bekommt sie von der Spitex einen Zustupf, weil diese sie als «pflegende Angehörige» aufführt, zudem verteilt sie Mahlzeiten in der Region. Ihre Arbeitszeit ist heute viel länger: Zuvor arbeitete sie 24 Stunden pro Woche – jetzt pro Tag.
Sibylle Maag pflegt bis jetzt gratis. Vor Kurzem hat sie ihre Mutter bei der AHV-Hilflosenentschädigung angemeldet. So wird sie etwas Geld bekommen – es sind monatlich 239 Franken. Bei schweren Fällen kann der Betrag höher sein – maximal aber 956 Franken pro Monat.
Dieses Jahr trat ein neues Gesetz in Kraft, das die Situation von Angehörigen verbessern soll, die berufstätig sind und Eltern oder den Partner pflegen. Die Verbesserungen sind kaum der Rede wert. Ein Beispiel: Angehörige dürfen nun drei Arbeitstage am Stück bezahlt frei nehmen – aber höchstens zehn Tage im Jahr. Für die Pflege von chronisch kranken und betagten Leute ist das ein Tropfen auf den heissen Stein.
Kein Wunder, raten viele Experten, den Beruf ja nicht aufzugeben. Es sei besser, mit dem verdienten Geld eine Pflegehilfe oder andere Leistungen zu finanzieren, die das Leben für alle erträglicher machen. Altersforscher François Höpflinger sagt: «Das ist sinnvoller, als in eine Situation zu rutschen, die einen langfristig überfordert.»
Auszeiten sind wichtig für die Pflegenden
Es gibt aber auch einen Mittelweg: Wichtig ist laut Experten, dass pflegende Angehörige sich entlasten, freie Tage einschalten oder das Essen von auswärts bestellen.
Regina Christen sagt: «Man darf nicht meinen, man müsse alles selber machen.» Sie geht jeden Winter eine Woche in die Skiferien, ihr Mann ist in dieser Zeit in einem Heim. Zudem ist sie jeden Monat ein Wochenende weg, zum Beispiel im Tessin. In dieser Zeit sorgen ihre Söhne oder Aushilfen für den Ehemann. «Ich mache das sehr bewusst, weil ich bei Kräften bleiben möchte», sagt sie.
Allerdings können sich viele solche Angebote finanziell gar nicht leisten. Alexander Widmer von Pro Senectute sagt: «Im Gegensatz zur Pflege sind viele Entlastungsangebote nicht von einer Versicherung abgedeckt.» Für ihn ist klar: Der Bund sollte Tagesstätten und Hilfsdienste für zu Hause finanziell besser fördern.
Beratung und finanzielle Unterstützung: Hier finden Betroffene Hilfe
Beratung:
Unterstützung in der Pflege:
Psychologische Unterstützung:
- Pro Mente Sana, Promentesana.ch, Tel. 0848 800 858
- Dargebotene Hand, Tel. 143
Meditel des Gesundheitstipp, 044 253 83 23 (Mittwoch)
Hilflosenentschädigung:
Wer dauernd Pflege braucht, hat Anspruch auf Hilflosenentschädigung. Patienten dürfen das Geld ihren pflegenden Angehörigen weitergeben.
AHV: Je nach Pflegebedarf bekommen Patienten 239 bis 956 Franken pro Monat.
IV: Die Erkrankten erhalten 478 bis 1912 Franken pro Monat.
Assistenzbeiträge:
Wer viel Hilfe braucht, kann auch eine Pflegehilfe anstellen. Assistenzbeiträge dazu liegen zwischen 34 und 50 Franken pro Stunde. Bedingung: Patienten müssen eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen und in der eigenen Wohnung leben. So können sich Angehörige entlasten.
Betreuungsgutschriften: Angehörige haben zudem einen Anspruch auf Betreuungsgutschriften der AHV. Diese Beiträge ermöglichen ihnen später eine höhere Rente, wenn sie pflegebedürftige Verwandte betreut haben. Voraussetzung ist, dass diese eine Hilflosenentschädigung beziehen
und man höchstens 30 Kilometer entfernt wohnt.
Kantonale Hilfe:
Manche Kantone kompensieren auch den Lohnausfall, wenn Angehörige über längere Zeit viel weniger verdienen, weil sie ihre erkrankten Verwandten pflegen. Allerdings muss die erkrankte Person Ergänzungsleistungen beziehen, und die Bedingungen sind streng. Erkundigen Sie sich bei Ihrer Gemeinde.
Weitere Informationen: www.ahv-iv.ch