Sie war kein Wunschkind: «Ich bin das Resultat eines Seitensprungs meiner Mutter mit ihrem Cousin», sagt die 70-Jährige E. H. Dass sie unerwünscht war, liess man sie spüren: Sie habe für alles den Kopf herhalten müssen, ihre Mutter habe sie oft geschlagen. «Ich hatte ständig Angst.» Schon als kleines Mädchen litt sie unter Migräne.
Mit 19 Jahren hielt sie es nicht mehr aus und lief von zu Hause weg. Sie gründete eine Familie, doch auch dieses Leben war von traumatischen Erlebnissen geprägt: Ihr Mann war Alkoholiker und schlug sie. E. H. trennte sich von ihm. Die gemeinsamen Kinder musste sie gegen ihren Willen in eine Pflegefamilie geben. «Das belastete mich sehr.» Die junge Frau trat eine Stelle als Servicekraft in einem Restaurant an. Damals begannen die Schmerzen. Sie habe viel gearbeitet und sich einsam gefühlt. «Mir wurde alles zu viel.» Aber erst dreissig Jahre später, als E. H. vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, fand ein Arzt heraus, dass sie Fibromyalgie hat. Diese Menschen leiden unter starken Schmerzen in der Nähe der Gelenke. Weder Bluttests noch Röntgenbilder können die Schmerzen bestätigen. Betroffene fühlen sich deshalb oft als Simulanten abgestempelt.
Viele Patienten mit Fibromyalgie hatten wie E. H. eine schlimme Kindheit. Der Basler Psychiater Peter Keel untersuchte in einer Studie, welche seelischen Probleme bei Patienten mit chronischen Schmerzen eine Rolle spielen. Alle waren in Behandlung beim Psychotherapeuten. Die meisten Teilnehmer litten an Fibromyalgie. Vier von fünf sagten, sie hätten als Kind zu wenig Liebe erhalten. Die Hälfte wurde sexuell missbraucht. Ein ähnliches Bild zeigte sich auch in der Selbsthilfegruppe, die E. H. während einiger Jahre besuchte: Elf der zwölf Teilnehmer wurden als Kinder missbraucht.
Psychischer Stress prägt das Schmerzempfinden
Auch Ulrich Egle, Facharzt für Psychosomatik und Schmerz im Sanatorium Kilchberg ZH, ist überzeugt, dass bei Fibromyalgie in vielen Fällen eine seelische Verletzung der Ursprung ist. Der psychische Stress, den Betroffene im Kindesalter erleben, prägt laut Egle das Schmerzempfinden. Denn das Gehirn verarbeitet Stress in denselben Arealen wie körperliche Schmerzen. Werden diese überlastet, kann das krank machen. Egle: «Dies führt dazu, dass Betroffene schneller in Anspannung kommen und dann Schmerz empfinden.»
Zudem schütte das Gehirn von Fibromyalgie-Patienten weniger Oxytocin aus, sagt Egle. Dieser Botenstoff ist als «Kuschelhormon» bekannt und wichtig für die Bindung zwischen Menschen. Es kann auch Stress reduzieren. Produziert der Körper aufgrund traumatischer Beziehungen in der Kindheit zu wenig davon, könne das bei Stress Schmerzen auslösen.
Das Unterbewusstsein speichert Traumata
Die negativen Erfahrungen aus der Kindheit können jahrzehntelang im Unterbewusstsein schlummern. Psychiater Keel sagt: «Vielen ist nicht bewusst, dass die Ursache ihrer Schmerzen in der Kindheit liegen könnte.» Sie seien überzeugt, dass sie einen körperlichen Grund haben.
Die Krankheit zu therapieren ist schwierig. Medikamente helfen nicht immer. Einige Ärzte verschreiben Antidepressiva. Denn die ständigen Schmerzen belasten auch die Psyche der Patienten. Studien belegen zwar, dass diese Mittel auch Schmerzen lindern und Betroffene besser schlafen. Doch die Zeitschrift «Pharma-Kritik» schätzt den Nutzen von Antidepressiva als gering ein.
Auch Medikamente gegen Epilepsie werden verschrieben. Sie hemmen bestimmte Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, die bei Fibromyalgie erhöht sind. Dadurch können Schmerzen und Angst abnehmen und der Schlaf wird besser. Studien zeigen aber: Man muss zwölf Personen behandeln, damit eine von ihnen halb so viele Schmerzen hat wie ohne Medikament.
Schmerzmittel zeigten in einigen Studien einen Nutzen (siehe Tabelle im PDF). Keel: «Es ist ein Ausprobieren: Manchmal hilft ein Medikament, manchmal nicht.» Für das Lindern der Schmerzen sei vor allem wichtig, die Zusammenhänge zwischen dem eigenen Leben und der Krankheit zu erkennen. «Schmerzen und Müdigkeit vermitteln eine Botschaft», sagt Keel. Sie zu verstehen, helfe während der Therapie.
Egle entwickelte eine Behandlung, die ohne Medikamente auskommt. Seine Überlegung: «Wenn Fibromyalgie die Folge von seelischem Stress in der Kindheit sein kann, müssen wir dort ansetzen.» Im Zentrum steht deshalb die Psychotherapie. Dazu kommen Bewegungstherapie und Entspannungsübungen. Häufig leiden Betroffene auch unter Schlafproblemen. Auch dann verzichtet Egle möglichst auf Medikamente, denn «viele machen schnell abhängig». Helfen kann zum Beispiel, vor dem Zubettgehen nicht mehr fernzusehen und keinen Alkohol zu trinken. Egle: «Nach etwa fünf Wochen mit all diesen Massnahmen haben viele Patienten kaum noch Schmerzen.»
E. H. hat schon vieles ausprobiert. Am meisten hilft ihr ein warmes Jod-Solebad. Mindestens einmal in der Woche badet sie für knapp eine Stunde darin. Zudem ist sie fast täglich mit dem Hund draussen und geht in die Physiotherapie. Sie nimmt auch Schmerzmittel. Sie helfen aber nur wenig.