An guten Tagen macht mir Mami morgens die Haare. Sie nimmt mich in den Arm und wir pläuderlen ein bisschen. Das ist aber nicht immer so. Es kann in der Nacht kippen. Mami kann gesund ins Bett gehen und ganz krank aufwachen. Sie hat rheumatoide Arthritis. Wenn sie einen Schub hat, schmerzen ihre Gelenke. An schlechten Tagen kann sie nicht sprechen, weil ihr Hals ganz steif ist. Dann setze ich mich ans Telefon und organisiere Termine.
Manchmal muss ich ihr den Becher halten oder das Essen geben. Ich helfe ihr auch beim Anziehen, wenn sie nicht aufstehen kann, oder gehe einkaufen. Das ist für mich normal. Ich kenne es nicht anders.
Am Sonntag mache ich immer das Znacht. Dann gibt es Pizza oder Spaghetti-Muffins. Meistens halte ich mich ans Kochbuch. Ich habe aber auch schon improvisiert. Zum Beispiel habe ich eine Torte aus gefrorenen Himbeeren, Nutella, Schlagrahm und Biskuitboden gemacht. Die war gut! Mami fand sie aber ein bisschen «mastig».
Alles, was ich nicht so gerne mache, erledigt mein Grosi. Sie hängt zum Beispiel die Wäsche auf und bügelt sie. Ich wasche aber selber. Papi könnte das nicht, er würde alles 60 Grad waschen. Trotzdem wünsche ich mir, er wäre häufiger zu Hause. Er ist manchmal monatelang weg. Als Maschinenbauingenieur arbeitet er auf der ganzen Welt. Auch an Weihnachten ist er nicht da. Wir telefonieren aber jeden Abend. Ich warte auf den Anruf oder sage Mami, sie solle mich wecken. Wir reden nicht lange. Es geht mir nur darum, seine Stimme zu hören.
Über die Krankheit reden wir eigentlich nicht viel. Aber ich habe einen Sorgenfresser. Das ist ein Plüschtier mit einem Reissverschluss am Bauch. Ich schreibe mein Problem auf einen Zettel und lege ihn hinein. Dann bekomme ich von ihm eine Antwort. Natürlich weiss ich, dass nicht wirklich der Sorgenfresser antwortet, sondern mein Mami. Aber es hilft mir trotzdem.
In der Schule mache ich mir manchmal Sorgen um Mami. Wenn ich einen Krankenwagen höre, habe ich Angst, dass er zu uns nach Hause fährt. Denn wenn Mami einen heftigen Schub hat, kann ihr Herz stehenbleiben. Meine Mitschüler wissen nicht, dass mein Mami krank ist. Ich will nicht auffallen oder anders sein. Nur meine beste Freundin Alexandra weiss es. Sie lenkt mich ab.
Als ich vier war, waren wir in Österreich auf einer Alp in den Ferien. Ein Krankenwagen musste Mami abholen und mit Blaulicht ins Spital fahren. Mami sagt, ich hätte danach eine Weile nur noch gestottert. Das weiss ich aber nicht mehr.
Ich glaube schon, dass ich glücklich bin. Eigentlich bin ich eher verwöhnt. Ich vermisse nichts – ausser vielleicht ein Haustier. Ich hätte gerne ein Pferd, einen Hund oder eine Katze. Aber Mami sagt, das gebe zu viel Aufwand. Ich gehe aber einmal pro Woche reiten. Das macht Spass, da kann ich alles vergessen.
Krank bin ich eigentlich nur, wenn es Mami gut geht. Manchmal muss ich dann aber zum Grosi, weil ich Mami nicht anstecken darf. Das macht mich aber nicht etwa hässig. Ich will auch kein gesundes Mami. Ich will genau das Mami, das ich habe. Das ist das richtige.
An Silvester sehe ich Papi wieder. Wir fahren ihm entgegen und treffen uns in Nürnberg. Ich bin froh, in diese Familie geboren zu sein.
Wenn Kinder ihre Eltern pflegen
In der Schweiz pflegen 50 000 bis 100 000 Kinder ihre Eltern oder andere Angehörige, die erkrankt, verunfallt oder beeinträchtigt sind. Zurzeit untersuchen Forscher am Bildungszentrum Careum Zürich die Situation dieser Kinder. Agnes Leu leitet dazu eine Studie. Sie sucht betroffene Familien. Die Studie soll auch Unterstützungsangebote für die Kinder anstossen. Solche gibt es heute noch nicht.
Info und Hilfe:
Pro Juventute, Telefon 147
Forschungsteam Agnes Leu: youngcarers@careum.ch