Es passierte letzten März beim Badminton: Gabriel Aeschbacher sprang hoch, um den Federball kräftig über das Netz zu schlagen. Da gab es einen Knall, und sein Fuss hing schlaff herab. «Ich wusste sofort, dass da etwas gerissen sein muss», erinnert sich der 48-Jährige aus Knonau ZH. Die Ärzte im Spital stellten einen Riss der Achillessehne fest.
Der Spitalarzt bot Aeschbacher am nächsten Tag zur Operation auf. Es gebe keine Alternative. Der zweite Arzt räumte auf Nachfragen des Patienten aber ein, dass man nicht unbedingt operieren müsse. Zugleich warnte er, dass das Resultat ohne Operation schlechter sein könne. Gabriel Aeschbacher verzichtete auf die Operation: «Ich habe es bis heute nicht bereut.»
Gerade Privatversicherte werden zu oft operiert
Ärzte empfehlen bei einem Riss der Achillessehne oft eine Operation. Doch diese ist nur selten nötig. Die Verletzung heilt ohne Eingriff bei fast allen Patienten genauso gut. Das Heilen dauert nicht länger, wenn man den Fuss in einer Schiene ruhigstellt. Die Sehne ist danach fast so stabil wie nach einer Operation. Operierte Patienten haben zudem drei Mal so oft und schwerere Komplikationen wie Infekte oder Blutgerinnsel (siehe Saldo 13/20).
Fachleute kritisieren, dass orthopädische Chirurgen viel zu oft operieren. In der Schweiz führen sie pro Jahr rund 220 000 Operationen an Knie, Schulter, Fuss oder Rücken durch. Hannu Luomajoki, Professor für Physiotherapie an
der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, sagt: «Rund ein Drittel bis zur Hälfte davon sind wahrscheinlich unnötig.» Vor allem Privatversicherte kämen zu häufig unters Messer, so Luomajoki. Denn sie spülen Chirurgen und Spitälern besonders viel Geld in die Kasse. Das zeigte vor vier Jahren auch eine Studie des Bundesamts für Gesundheit: Ärzte operierten Privatversicherte mehr als doppelt so oft am Knie und anderthalb Mal so oft an der Hüfte wie allgemeinversicherte Patienten.
Unnötige Operationen verursachen nicht nur enorme Kosten. Auch für die Patienten haben sie Folgen: Sie müssen sich unnötigen Risiken aussetzen wie zum Beispiel Infektionen, Blutgerinnsel oder geschädigte Nerven. Der Orthopäde Luzi Dubs aus Winterthur ZH sagt: «Eine Operation ist immer auch eine Schädigung des Körpers.» Ist sie nicht wirklich nötig, müsse man sie vermeiden.
Dubs hat deshalb ein einfaches und prägnantes System entwickelt: die Ampel für Operationen. Sie soll Ärzten, Versicherungen, aber auch Patienten helfen zu entscheiden, welche Operationen zwingend nötig sind und welche nicht. Dubs stützt sich dabei auf den aktuellen Stand der Wissenschaft.
Bei Grün heisst es: freie Fahrt in den Operationssaal. So ist unbestritten, dass man einen verschobenen Bruch des Oberschenkelhalses operieren muss. Das gilt auch bei einem Riss der Kniescheibensehnen. Sie wachsen von alleine nicht richtig zusammen.
Auf Rot steht die Ampel bei Operationen, die Patienten eindeutig nichts nützen. Beispiel: Die Bänder am Sprunggelenk sind ganz oder teilweise gerissen. Dann reicht es, den Knöchel in einer Schiene oder einem Spezialschuh ruhigzustellen.
So klar ist der Fall aber nicht bei jeder Operation. Dubs hat deshalb eine Zwischenkategorie entwickelt: Orange. Diese Operationen sind nicht zwingend nötig, können aber bei einigen Patienten trotzdem sinnvoll sein. Hier rät Dubs, zuerst andere Therapien auszuprobieren, wie Physiotherapie oder Medikamente. «Erst wenn diese nicht genügend helfen, sollte man je nach Situation eine Operation in Betracht ziehen.»
Beispiel Meniskus: Der scheibenförmige Knorpel im Knie kann geschädigt aussehen. Meist ist Verschleiss die Ursache. Dubs empfiehlt Patienten dann abzuwarten, allenfalls Physiotherapie zu machen und Schmerzmittel einzunehmen. Studien zufolge besserten damit bei zwei von drei Patienten die Schmerzen im Knie. Nur jeder dritte liess sich danach noch operieren. Doch in der Schweiz verschreiben Ärzte nur wenigen Patienten erst Physiotherapie. Zu diesem Schluss kam 2017 eine Studie des Instituts für Hausarztmedizin der Uni Zürich.
Auch bei geschädigten Sehnen in der Schulter muss man selten sofort operieren. In vielen Fällen hilft Physiotherapie, den Arm wieder einsatzfähig zu machen. Unbedingt operieren sollte man jedoch, wenn die Schultersehnen bei einem Unfall frisch gerissen sind und der Patient den Arm in den folgenden Tagen nicht mehr hochheben kann.
Arzt Daniel Tapernoux von der SPO Patientenorganisation begrüsst das Ampelsystem: «Es ist ein einfaches Instrument, das Patienten unter Umständen helfen kann, sich für oder gegen eine Operation zu entscheiden.» Dies bewahre sie vor Schäden durch unnötige Eingriffe. Tapernoux rät Patienten, sich gut zu informieren und den Arzt nach Alternativen zur Operation zu fragen. «Man sollte sich nicht drängen lassen.» Häufig seien Eingriffe bei Problemen an Gelenken und Bändern nicht eilig.
Auch Hannu Luomajoki überzeugt das Ampelsystem. Allerdings würde er die Ampel noch bei weiteren Operationen auf Rot stellen, zum Beispiel auch bei Schäden an Meniskus und Schultersehnen, die durch Verschleiss entstanden sind. Hier sage die Fachliteratur ganz klar, dass man nicht operieren muss.
Operieren oder nicht? Ärzte darf man auch infrage stellen
- Lassen Sie sich nicht zu einer Operation drängen.
- Fragen Sie den Arzt, was passieren kann, wenn Sie sich nicht operieren lassen.
- Erkundigen Sie sich nach Alternativen.
- Fragen Sie den Arzt, ob er sich selber operieren lassen würde.
- Holen Sie eine Zweitmeinung ein – am besten bei einem Arzt, der nicht selber operiert.
Aufruf: Operation – wie haben Sie sich entschieden?
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