Die Geburt des ersten Retorten-Babys war eine medizinische Sensation. Louise Brown kam 1978 im englischen Manchester zur Welt. Heute ist die künstliche Befruchtung keine Seltenheit mehr: In der Schweiz entsteht jedes fünfzigste Baby im Reagenzglas.
Fortpflanzungsmediziner möchten nun die Embryonen und ihre Chromosomen untersuchen – um zu sehen, wie sie sich entwickeln, und um allfällige genetische Schäden festzustellen. Das will das Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin erlauben, über das die Stimmbürger am 5. Juni entscheiden (siehe Kasten). Damit könnten nicht nur Paare mit einer schweren Erbkrankheit den Embryo untersuchen lassen, sondern alle Paare, die sich vergewissern wollen, dass die Chromosomen in Ordnung sind.
Kritiker befürchten, dass solche Tests die Gesundheit des Embryos gefährden könnten. Denn sie verlängern die Zeit zwischen der Zeugung des Embryos im Reagenzglas und dem Einsetzen in die Gebärmutter – eine heikle Phase.
In den ersten Lebenstagen werden Gene ein- oder ausgeschaltet. Das sei ein sensibler Prozess, der anfällig für Störungen sei, sagt Urs Scherrer, Professor am Schweizer Herz- und Gefässzentrum des Inselspitals Bern. «Das Milieu im Körper der Mutter ändert sich ständig. Zum Beispiel dann, wenn das Ei durch den Eileiter wandert.» Die Fortpflanzungsmedizin beeinträchtige diese ausgeklügelten Vorgänge – zum Schaden des Babys. Schon eine künstliche Befruchtung ohne genetische Tests sei ein Risiko für den Embryo.
Scherrer hat Studien dazu gemacht. Er verglich 65 Kinder, die nach einer künstlichen Befruchtung auf die Welt kamen, mit 57 natürlich gezeugten. Resultat: Bei den Kindern aus dem Reagenzglas gibt es Anzeichen, dass die Arterien vorzeitig altern. Das Insulin wirkt nicht mehr richtig und der Blutdruck ist erhöht. «Solche Werte haben normalerweise Menschen im Alter von 40 bis 45 Jahren», sagt Scherrer.
Retorten-Kinder: Schäden könnten sich vererben
Eine australische Studie bestätigte, dass ein Embryo im Reagenzglas Stress ausgesetzt ist. Dort herrschen bei Säuregrad, Temperatur sowie Gehalt an Sauerstoff andere Werte als im Körper der Mutter. Scherrer kam bei Versuchen an Mäusen zu dramatischen Ergebnissen: «Eine solche Maus lebt um 25 Prozent weniger lang», sagt er. Laut Scherrer weist zudem einiges darauf hin, dass sich Schäden an die Nachkommen von Retorten-Kindern weitervererben.
Wenn man den Embryo genetisch untersuche, bedeute dies zusätzlichen Stress im Reagenzglas. Das verzögere das Einsetzen des Embryos in die Gebärmutter und erhöhe die Wahrscheinlichkeit von Schäden. Scherrer: «Ich befürchte, dass Tests das Krankheitsrisiko beim zukünftigen Kind weiter erhöhen könnten.»
«Forschung liefert noch keine Beweise»
Fortpflanzungsmediziner wischen solche Bedenken zwar nicht vom Tisch. Der Zürcher Frauenarzt Peter Fehr sagt, man könne den «Forschungen wissenschaftlich nicht viel entgegnen». Man müsse «die Probleme im Auge behalten». Es gebe jedoch nur wenige wissenschaftliche Studien und keine Bestätigung durch andere Forschergruppen.
Die Paare sollten laut Fehr ihren Kinderarzt darüber informieren, wenn ihr Baby durch künstliche Befruchtung entstanden ist. Und: Gegen Herz-Kreislauf-Beschwerden gebe es gute Medikamente.
Für Bruno Imthurn, Fortpflanzungsarzt am Zürcher Universitätsspital, ist klar, dass diese Forschung erst «Hinweise, aber keine Beweise» lieferte. Dennoch sagt er: «Sollte sich der heutige Verdacht zur Gewissheit verdichten, werden wir die betroffenen Paare informieren und die Ursachen suchen.» Die Technik habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verbessert.