Der Arbeitskollege hat ein Problem mit Alkohol. Die Freundin ist depressiv – bei seelischer Not sollen nun Laien erste Hilfe leisten. Angehörige, Lehrer, Vereinsleiter oder Arbeitgeber sollen lernen, wie man Leute mit psychischen Problemen anspricht und wie man sie überzeugen kann, zum Arzt oder Psychologen zu gehen. Das ist das Ziel der Nothelferkurse für psychische Gesundheit der Stiftung Pro Mente Sana. Sie umfassen vier Abende. Kostenpunkt: happige 380 Franken.
Die Idee stammt aus Australien. Heute vertreibt die Organisation «Mental Health First Aid International» wie ein Franchisingunternehmen das Kurskonzept in der ganzen Welt. Sie verkauft Lizenzen an Länderpartner, so auch an Pro Mente Sana.
Die Kurse sind für Pro Mente Sana ein lukratives Geschäft: Im Jahr 2022 verdiente die Stiftung damit zwei Millionen Franken. Das ist fast ein Viertel des gesamten Betriebsertrags von knapp neun Millionen Franken. Die Kursleiter müssen der Stiftung jeweils einen Drittel der Einnahmen abtreten – je nach Grösse und Art des Kurses. Beim teuersten Kurs sind es 180 Franken pro Person. Bei der Höchstzahl von 20 Teilnehmern verdient Pro Mente Sana damit 3600 Franken pro Kurs.
Lizenzgebühren fliessen nach Australien
Es gibt rund ein halbes Dutzend verschiedener Kurse, zum Beispiel Erste Hilfe für Erwachsene oder für Menschen mit Suizidgedanken. Jeder Kurs kostet. Am Schluss bekommen die Teilnehmer ein Zertifikat. Doch: Es ist nur drei Jahre lang gültig. Dann müssen sie den Kurs erneut absolvieren – und wieder zahlen. Laut der neusten Jahresrechnung von Pro Mente Sana sollen die Kurse «einer der tragenden finanziellen Pfeiler» der Organisation werden. Diese kämpft nach eigenen Angaben auf der Website seit Jahren mit finanziellen Problemen.
Auch die australische Zentrale profitiert: Sie verlangt einmalig umgerechnet 3400 Franken pro Lizenz für jeden Kurstyp. Hinzu kommen die Kosten für zwei australische Trainer. Sie klären den Geschäftspartner vor Ort über das Vorgehen und die Richtlinien auf – mit Flug und Hotel in der Schweiz macht das geschätzte 29'000 Franken aus.
Bloss: Den Teilnehmern und den Betroffenen nützen die Kurse kaum. Sie verbessern die psychische Gesundheit von Betroffenen nicht, obwohl dies das erklärte Ziel ist. Das zeigt jetzt eine Analyse der unabhängigen internationalen Forschungsgruppe Cochrane Collaboration. Sie analysierte 21 Studien mit insgesamt mehr als 22'000 Teilnehmern. Ihr Fazit: Die Kurse hatten keine Vorteile für die Betroffenen im Umfeld der Ersthelfer. Bereits im letzten Jahr war eine Übersichtsstudie der Columbia University in New York (USA) zum gleichen Schluss gekommen.
Nicolas Rüsch, Professor für Public Mental Health an der Universität Ulm (D), sagt: «Es ist in keiner Weise nachgewiesen, dass es Menschen in seelischer Not besser geht, wenn geschulte Ersthelfer sie betreuen.» Das habe sich zum Beispiel bei psychisch belasteten Schülern und deren Lehrern gezeigt. «Der Nutzen der Kurse ist daher unklar», so Rüsch. Dennoch behauptet Pro Mente Sana, dass die Wirksamkeit der Kurse wissenschaftlich nachgewiesen sei.
René Bridler, ärztlicher Direktor des Sanatoriums Kilchberg ZH, sagt: «Die Resultate der Cochrane-Analyse sind enttäuschend.» Es sei unwahrscheinlich, dass diese Kurse einen Einfluss auf den Verlauf von schweren psychischen Krankheiten hätten oder deren Heilungschancen verbesserten.
Pro Mente Sana verkauft auch Kurse für Unternehmen. Dort sollen Führungskräfte und Mitarbeiter lernen, gefährdete Kollegen anzusprechen. Doch auch hier zeigte die Cochrane-Studie keinerlei Vorteile. Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Probleme sank nicht.
Pro Mente Sana: Nutzen schwer überprüfbar
Im Gegenteil: Die Ersthelfer-Kurse für die Psyche können sogar schaden. Menschen geraten so schneller in die Mühlen der Pychiatrie. Der Psychologe Michael Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften sagt: «Es besteht die Gefahr, dass die Kursteilnehmer normale Probleme im Alltag wie Stress, Schüchternheit oder Traurigkeit als Zeichen einer psychischen Krankheit interpretieren.» Dies hat Folgen: Beim Arzt geraten Betroffene leicht in die Rolle des passiven Patienten, der Hilfe von anderen braucht, statt seine Probleme selber anzupacken. «Das schadet dem Selbstbewusstsein und verschlechtert die psychische Gesundheit zusätzlich», so Hengartner.
Für den Notfallpsychologen Michael Freudiger aus Winterthur ZH ist klar: «Man muss das Konzept der Kurse und anderer Präventionskampagnen grundsätzlich überdenken und deren Nutzen wissenschaftlich besser überprüfen.»
Pro Mente Sana entgegnet, dass Studien die Wirksamkeit bei den Kursteilnehmern mehrfach nachgewiesen haben. So steige die Bereitschaft, Betroffene anzusprechen. Es sei schwierig, die Wirksamkeit bei Hilfeempfängern zu überprüfen. Das Ziel der Kurse sei, die Teilnehmer über psychische Krankheiten aufzuklären und ihnen konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Die Kurse würden den Teilnehmern beibringen, keine voreiligen Diagnosen zu stellen. Es sei wichtig, alltägliche Probleme ernst zu nehmen, damit man allfällige psychische Krankheiten früh erkennen und behandeln könne. Experten würden empfehlen, dass Organisationen wie Pro Mente Sana sich nicht nur über Spenden, sondern auch über eigene Einnahmequellen finanzieren.
Krisensituation? Hier finden Sie Hilfe
- Die Dargebotene Hand, anonyme Telefonberatung, Tel. 143
- Equilibrium, Verein zur Bewältigung von Depressionen, Beratung Tel. 0848 143 144, Depressionen.ch
- Pro Mente Sana, Beratung Tel. 0848 800 858, Promentesana.ch