Fast 3400 Todesfälle gingen in Grossbritannien in den letzten fünf Jahren auf das Konto des Schmerzmittels Pregabalin. Das berichtete vor kurzem die englische Zeitung «Sunday Times». Viele der Verstorbenen hatten das Medikament in grösseren Mengen geschluckt, häufig zusammen mit weiteren starken Schmerzmitteln wie Tramal oder Fentanyl. Kombiniert eingenommen, können die Mittel bewirken, dass sich das Atmen stark verlangsamt. Das kann zu Koma oder Tod führen.
Mittel mit Pregabalin kommen auch in der Schweiz immer stärker in die Kritik. Arzt Etzel Gysling aus Wil SG sagt: «Pregabalin wird zunehmend zu einer Problemsubstanz.» Der Wirkstoff ist im Medikament Lyrica und in dessen Generika enthalten. Er ist seit rund 20 Jahren in der Schweiz zugelassen: ursprünglich als Epilepsiemedikament, inzwischen auch als Mittel gegen Angststörungen und Nervenschmerzen.
Pregabalin kann süchtig machen
Die lebensgefährlichen Atemprobleme treten nicht nur bei einer Überdosis auf. Gefährdet sind auch Patienten, deren Nieren nicht mehr gut arbeiten oder an einer Lungenkrankheit leiden. Davor warnte die US-Arzneimittelbehörde bereits vor fünf Jahren. Ein Risiko sei auch das Kombinieren von Pregabalin mit Schlafmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine oder mit Alkohol.
Hinzu kommt: Pregabalin kann abhängig machen. Patienten nehmen dann immer mehr davon ein oder länger als nötig. Laut dem deutschen Fachblatt «Arznei-Telegramm» berichteten Patienten, dass sie sich mit Pregabalin extrem glücklich oder «high» fühlten. Solche euphorischen Gefühle beschrieben in Studien auffallend häufig Leute, die Pregabalin gegen eine Angststörung nahmen. Das erhöht das Risiko, abhängig zu werden. Der Apotheker Wolfgang Becker-Brüser vom «Arznei-Telegramm» sagt: «Ärzte müssen Patienten über dieses Risiko informieren.»
Selbst bei Leuten, die Pregabalin in üblichen Mengen und nur kurz nehmen, kann das Absetzen Probleme machen. Fachleute raten, dies schrittweise zu tun. Sonst drohen Entzugserscheinungen wie Schlafprobleme, Übelkeit, Nervosität, Ängste oder Schmerzen.
Pregabalin hat viele weitere Nebenwirkungen: Es verursacht oft Schwindel und Benommenheit. Das ist vor allem für ältere Leuteeine Gefahr: Sie stürzen dann häufiger. Patienten riskieren ausserdem Sehstörungen, Depressionen, Verstopfung und Muskelkrämpfe. Die französische Fachzeitschrift «Préscrire» kam daher zum Schluss: «Ärzte sollten das Mittel nur mit besonderer Vorsicht verschreiben.»
Trotzdem geben Ärzte in der Schweiz den Wirkstoff Pregabalin immer öfter an Patienten ab. Die Anzahl der verkauften Packungen stieg innert zweier Jahre um 10 Prozent. 2021 waren es ungefähr 800'000 Packungen, 880'000 im Jahr 2023. Das zeigen Zahlen des Verbands Interpharma. Gemäss dem Arzneimittelreport der Krankenkasse Helsana zählt Pregabalin zu den 15 am häufigsten verschriebenen Generika.
Patienten bekommen Lyrica, wenn Füsse und Beine wegen einer Polyneuropathie schmerzen, ebenso bei Nervenschmerzen nach einer Gürtelrose. Dagegen ist der Wirkstoff zugelassen, obwohl er nur mässig gut wirkt.
Immer häufiger geben Ärzte das Mittel auch Patienten mit anderen Schmerzkrankheiten. In einer Studie der Philipps-Universität in Berlin von 2018 betraf das drei von vier Patienten, die das Medikament neu erhielten. Die meisten hatten Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule. Es ist allerdings nicht belegt, dass Pregabalin dagegen wirkt. Der Einsatz des Wirkstoffs bei solchen Beschwerden sei «klinisch fragwürdig», hielt die Fachzeitschrift «Infomed-Screen» fest.
Gegen Nervenschmerzen helfen auch andere Mittel
Arzt Etzel Gysling sagt: «Wenn überhaupt, sollten Ärzte das Mittel nur bei Krankheiten abgeben, gegen die es nachweislich nützt.» Oft gibt es Alternativen: Gegen Nervenschmerzen zum Beispiel empfehlen Fachleute auch Medikamente gegen Depressionen oder Pflaster und Salben mit Chiliextrakt. Auch eine Physiotherapie kann helfen.
Hersteller Viatris verweist auf die Packungsbeilage von Lyrica. Es liege in der Verantwortung des Arztes, Nutzen und Risiken solcher Präparate für jeden Patienten einzeln abzuwägen.