Am Morgen stehe ich immer zuerst mit dem linken Fuss auf. Belaste ich stattdessen den rechten, spüre ich einen Zwick bis zur Hüfte. Meine Gelenke fühlen sich viel älter an, als sie sind. Das zeigt sich auch bei meinen Knien. Auf den Zug rennen geht nicht. Ich vermeide es, meinen Körper zu überlasten.
Am meisten schmerzen Schultern und Nacken. Die Muskeln sind dauerhaft verhärtet. Meinen Kopf kann ich deshalb nicht gut bewegen. Er fühlt sich an, als wäre er in einem Schraubstock fixiert. Drehe ich ihn zur Seite, höre ich es knirschen. Es klingt so, als würde man Cornflakes zerdrücken.
Diese Beschwerden sind die Spätfolgen einer Chemotherapie. Als ich zwölf Jahre alt war, fanden die Ärzte bei mir einen bösartigen Darmtumor. Zwar galt ich mit 14 als geheilt, doch die Krankheit hinterliess Spuren. Durch die starken Krebsmedikamente entwickelten sich meine Gelenke nicht so, wie das bei gesunden Jugendlichen während der Pubertät passiert. Sie sind abgenutzt wie bei einer Arthrose.
Meine Halswirbelsäule ist verknöchert. Dadurch haben die Nervenbahnen zu wenig Platz. Das verursacht nicht nur die Nacken- und Schulterschmerzen, sondern führt auch dazu, dass ich in Händen und Füssen weniger Gefühl habe. Mehrere Operationen an verschiedenen Gelenken verbesserten meine Situation. Schmerzfrei bin ich aber nicht. Deshalb brauche ich nach wie vor Schmerzmittel. Sie machen mich oft müde.
Es hilft mir, wenn ich mich bewege. So tut es mir gut, jeden Tag mit dem Hund spazieren zu gehen. Auch regelmässige Physiotherapie löst Blockaden. Stillstand dagegen macht alles schlimmer und führt dazu, dass ich nicht gut schlafe.
Trotz allem hatte ich viel Glück im Leben. Den Krebs entdeckte man durch Zufall. Weil ich auf dem Schulweg eine Menge gestohlener Kirschen ass und in der Eile die Steine – es waren 168 – verschluckte, hatte ich einen Darmverschluss. Im Spital entdeckte man den Tumor. Er hatte bereits Ableger gebildet. Hätte ich keine Kirschen stibitzt, gäbe es mich heute nicht mehr.
Genauso dankbar wie für diesen glücklichen Zufall bin ich für meine vier Kinder. Zwei ärztliche Gutachten nach der Chemotherapie waren nämlich zum Schluss gekommen, dass ich wohl keine Kinder würde zeugen können.
Mein Leben kann ich heute trotz Beschwerden geniessen. Zwar muss ich meine Kräfte einteilen, aber das gelingt mir inzwischen meist gut. Als Überlebender möchte ich mit meiner Geschichte krebskranken Kindern und ihren Eltern Mut machen. Über die Kinderkrebshilfe Schweiz bin ich häufig mit Betroffenen in Kontakt.
Auch meine Arbeit gefällt mir. Ich bin seit zwei Jahren in einem Teilzeitpensum als Klassenassistent tätig und unterstütze Lehrpersonen sowie Kinder und Jugendliche. Zudem gebe ich mit Freude Werkunterricht. Dabei hilft mir, dass ich gelernter Schreiner bin. In diesem Beruf kann ich aber nicht mehr arbeiten, da mein Körper nicht mehr so belastbar und weniger kräftig ist.
Krebs in der Kindheit: Ein Leben lang gezeichnet
Die Diagnose Krebs beim Kind ist ein grosser Schock. Dank neuen Behandlungen überleben heute 80 Prozent der Betroffenen. Doch dafür zahlen sie einen hohen Preis: Die Therapien richten Schaden an. 2018 zeigte eine Langzeitstudie mit 24 000 Teilnehmern, dass Betroffene als Erwachsene ein doppelt so hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten haben. Auch das Risiko für Lungenkrankheiten, Hormonstörungen oder eine erneute Krebserkrankung ist höher.
Zuzana Tomášiková von Kinderkrebs Schweiz sagt: «Viele Betroffene wissen gar nicht, dass es solche Spätfolgen gibt.» Deshalb möchte die Organisation, dass Spitäler den «Survivorship Passport» einführen. Ärzte halten darin fest, wie der Krebs behandelt wurde und wie sie künftige Risiken einschätzen.
Hilfe und Info: Kinderkrebs Schweiz, Tel. 061 270 44 00