Madeleine Rentsch (72) aus Gümligen BE machte im Sommer beim Arzt einen Routine-Bluttest. Dabei mass er auch die Schilddrüsenwerte und stellte fest, dass ihre Schilddrüse etwas weniger Hormone produzierte als üblich. Das kann zu Müdigkeit, Depressionen und Übergewicht führen. Doch Rentsch hatte keine Beschwerden. Der Arzt verschrieb ihr trotzdem Tabletten mit dem Hormon Levothyroxin.
Immer mehr Patienten bekommen solche Medikamente. Das zeigen Zahlen des Branchenverbandes Interpharma. Im Jahr 2012 gingen 860 000 Packungen mit dem Schilddrüsenhormon Levothyroxin über den Ladentisch – 2020 waren es 1,23 Millionen Packungen. Mediziner gehen davon aus, dass die meisten Patienten die Tabletten lebenslang einnehmen.
Auch bei hohen Werten bringen Hormone nichts
Der Schilddrüsenforscher Nicolas Rodondi vom Berner Inselspital sieht dies kritisch: «Bei den meisten Patienten wären diese Hormone gar nicht nötig.» Denn oft produziert die Schilddrüse zwar etwas weniger Hormone – doch die Patienten haben deswegen weder klare Beschwerden noch erhöhte Risiken. Dann bringen die Hormone keinen Nutzen. Bei Madeleine Rentsch mass der Arzt einen TSH-Wert von 8,86. Diese Zahl liegt ein wenig über dem Normalwert. Sie gibt an, dass die Schilddrüse weniger Hormone produziert. Schilddrüsenexperte Giatgen Spinas aus Zürich sagt: «Bis zu einem TSH-Wert von 10 braucht man in der Regel keine Hormone.» Auch ein Expertengremium aus Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Belgien, Kanada und Australien spricht sich für diesen Richtwert aus. Die Empfehlung publizierte das «British Medical Journal» im Jahr 2019. Studien zeigten, dass Hormone sogar bei doppelt so hohen TSH-Werten nichts bringen, sofern Betroffene keine Beschwerden haben. Patienten, die Hormone nahmen, fühlten sich ebenso müde und hatten gleich oft Depressionen wie solche, die kein Medikament erhalten hatten.
Hinzu kommt: Die künstlichen Hormone sind riskant. Der Experte Nicolas Rodondi sagt: «Die Tabletten können Osteoporose fördern und zu Herzrhythmusstörungen führen, wenn sie überdosiert sind. Man sollte sie nicht ohne Not verschreiben.» Auch die Patientin Madeleine Rentsch hatte nach der Einnahme Probleme: «Ich litt unter Schweissausbrüchen und Unwohlsein.» Gesundheitstipp-Leserin Ursula Bühler aus Wiesendangen ZH vertrug die Hormontabletten ebenfalls nicht gut: «Ich fühlte mich, als hätte ich ein Brett vor dem Kopf.» Auch Zittern und Nervosität sind typische Nebenwirkungen. Ausserdem können die Hormone dazu führen, dass Blutverdünner wie Marcoumar oder Sintrom stärker wirken.
Studie: Werte bessern auch ohne Tabletten
Selbst wenn ein Patient einen hohen TSH-Wert hat, braucht er nicht zwingend ein Leben lang Tabletten. Manchmal stabilisieren sich die Werte ohne Medikamente. Das zeigte vor kurzem eine Studie in Griechenland mit rund 300 Patienten. Nicolas Rodondi rät allerdings, die Tabletten nie eigenmächtig abzusetzen: «Es kann sein, dass die Schilddrüse im Lauf der Jahre plötzlich wirklich nicht mehr gut funktioniert.»
Nur in sehr wenigen Fällen sind die Tabletten bei leicht erhöhten Werten nötig. Zum Beispiel bei Schwangeren: Produziert ihr Körper zu wenig Schilddrüsenhormone, kann das dem ungeborenen Kind schaden.
Lebensmittel mit Jod: Gut für die Schilddrüse
Die Schilddrüse benötigt Jod, um Hormone herzustellen. Bekommt sie zu wenig Jod, kann sie weniger gut funktionieren oder sich vergrössern. Deshalb empfiehlt Giatgen Spinas, genügend Lebensmittel mit Jod zu essen – etwa Fisch, Meeresfrüchte, Milchprodukte und jodiertes Salz.
Die Firma Alfasigma vertreibt das Schilddrüsenmittel Tirosint. Sie schreibt dem Gesundheitstipp, Ärzte würden «in der Regel» bei TSH-Werten über 4 mit einer Therapie beginnen. Zu hoch dosiertes Levothyroxin könne Nebenwirkungen haben. Es sei Sache des Arztes, die Schilddrüsenwerte regelmässig zu kontrollieren, wenn der Patient ein solches Medikament erhalte.
Die Hersteller Merck und Alfasigma schreiben, der Arzt entscheide anhand der Diagnose über die Therapie und halte sich dabei an die medizinischen Leitlinien.