Christian Wenk, wie reagieren Ihre Patienten, wenn sie sehen, dass Sie im Rollstuhl sind?
Nach dem Unfall war ich unsicher im Rollstuhl, deshalb haben manche Leute unsicher reagiert. Seitdem ich gelernt habe, mich sicher zu bewegen, ist das kein Problem mehr. Es gab zwar manchmal lustige Situationen, wenn ein Patient mir gute Besserung wünschte oder wenn eine alte Frau glaubte, ich wolle ihr ihren Rollstuhl bringen. Aber nie hat jemand an meiner Kompetenz als Arzt gezweifelt. Das ist das Schöne: Ich sehe, dass die Ängste, die ich nach dem Unfall hatte, nicht zutreffen.
Wovor hatten Sie Angst?
Eine meiner grössten Ängste war, dass die Leute mich nicht mehr ernst nehmen. Aber der Rollstuhl hindert die Patienten nicht daran, mir ihr Vertrauen zu schenken. Wenn ich ihnen in die Augen schaue und die Hand gebe, sind alle Vorurteile innert Sekunden weg.
Gab es Zeiten, in denen Sie zweifelten, ob Sie noch als Arzt arbeiten können?
Ja, klar. Direkt nach dem Unfall war ich in einem Riesenloch. Ich hatte null Zuversicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder für andere Menschen liebenswert sein könnte. Heute weiss ich, dass das nicht stimmt. Im Gegenteil: Der Rollstuhl hat vieles erleichtert.
Was hat der Rollstuhl denn einfacher gemacht?
Die Leute öffnen sich mir gegenüber schneller. Sie schildern mir offener ihre Probleme.
Warum ist das so?
Man redet lieber mit jemandem über seine Probleme, bei dem man weiss, dass er selber durch die Hölle gegangen ist. Wenn ich einem Schwerkranken sage, ich verstehe Sie, dann hat das eine ganz andere Bedeutung, als wenn es ein junger, gesunder Arzt sagt. Denn ich habe es selber erlebt, was es heisst, ausgeliefert zu sein und in der Ungewissheit zu leben, wie es mir am nächsten Tag gehen wird.
Erwarten die Patienten nicht, dass der Arzt als «Halbgott in Weiss» auftritt?
Das glaube ich nicht. Ich wollte ohnehin nie ein typischer Arzt sein. Ich bin schlecht rasiert. Ich trage keine weissen Kleider in der Praxis. Ich sitze im Rollstuhl. Andere Behinderte haben mir geschrieben, ich mache ihnen Mut. Das freut mich besonders. Die grösste Behinderung ist nicht der Rollstuhl, sondern fehlender Mut.
Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht.
Ja. Das geht auch anderen Ärzten so. Arztkollegen, die schwer krank wurden, sagten mir, die Krankheit habe sie stark verändert. Man wird dankbarer für das, was man hat. Plötzlich merkt man, dass es nicht selbstverständlich ist, dass es einem gut geht.
Zur Person
Christian Wenk
Im Jahr 2000 war Christian Wenk Schweizer Meister im Duathlon. Diese Sportart kombiniert Laufen und Radfahren. Dann prallte er auf dem Rennvelo gegen ein Auto. Seither ist er querschnittgelähmt. Der Arzt arbeitete in verschiedenen Spitälern. Vor einem Jahr hat er eine Hausarztpraxis in Schenkon LU übernommen.