Ständig ist diese Stimme in meinem Kopf. Sie sagt zum Beispiel: «Wenn du dein Glas nicht genau zwei Zentimeter neben dem Teller hinstellst, passiert etwas Schlimmes.» Ich kenne diese Stimme schon lange. Vor ein paar Jahren wurde sie stärker. Sie verlangte auch anderes von mir: immer drei Mal auf den Lichtschalter zu drücken. Oder immer und immer wieder zu kontrollieren, ob der Herd wirklich abgestellt, die Türe tatsächlich abgeschlossen ist.
Auch Duschen ist für mich nicht einfach. Tief in mir drin fühle ich mich schmutzig. Bis ich mich wirklich sauber fühle, dauert es etwa eine Stunde. Das bringt mich fast zur Verzweiflung. Denn oft habe ich gar keine Kraft mehr, und die Muskeln schmerzen vom vielen Einseifen. Manchmal weine ich dann.
Mir ist klar, dass Ängste die Ursache für meine Zwänge sind. Ich habe grosse Angst, dass meiner Familie etwas zustossen könnte. Das begann, als ich im Alter von 16 Jahren in einer Ferienwohnung den Gasherd anstellen wollte. Ich wusste nicht, dass er kaputt war. So liess ich das Gas ein wenig ausströmen, weil ich meinte, die Flamme komme noch. Als ich den Eltern davon erzählte, erschraken sie und sagten: «Nina, weisst du, wie gefährlich das ist? Wir könnten jetzt tot sein.» Sie meinten es nicht böse. Aber dieser Satz brannte sich tief in mir ein. Die Angst, dass der Familie wegen mir etwas passieren könnte, ist geblieben. Ich halte sie fast nicht aus.
Zwänge geben mir ein Gefühl von Kontrolle – auch wenn sie das Problem natürlich nicht lösen. Mich beruhigt es, drei- statt einmal auf einen Lichtschalter zu drücken. Manchmal misstraue ich meiner Wahrnehmung. Dann schaue ich wieder und wieder nach, ob der Herd aus ist, obwohl ich ja sehe, dass es so ist. Und schon ist eine halbe Stunde vergangen.
Die Coronapandemie hat meine Zwänge verschlimmert. Überall ist zu lesen, man solle die Hände waschen, um andere Leute zu schützen. Nun wasche ich mir jeden Tag etwa 20 Mal die Hände, und die Haut ist jetzt sehr rissig. Wenn es schlimm kommt, bluten sie sogar.
Seit einiger Zeit gehe ich in eine Therapie und in eine Selbsthilfegruppe. Ich lerne, mich nicht mehr zu schämen und mich weniger unter Druck zu setzen. Heute stoppe ich zum Beispiel nicht mehr die Zeit, die ich zum Duschen brauche. Das hilft mir sehr. Es gab sogar Zeiten, da waren die Zwänge fast verschwunden. Dann kamen sie aber noch stärker zurück.
Ich weiss nicht, ob ich je ohne Zwänge leben kann. Vielleicht lerne ich, damit umzugehen und dabei glücklich zu sein. Im September beginne ich ein Germanistikstudium an der Uni Zürich. Ich liebe es, zu schreiben. Mein erstes Buch habe ich bereits verfasst: Es heisst «Zwanghaft», basiert auf meiner Maturaarbeit und handelt von meiner Störung. Jetzt schreibe ich an einem Roman.
Zwänge: Oft leiden Betroffene jahrelang
Wer kennt den Gedanken nicht, zum Beispiel vor den Ferien: Sind Herd und Bügeleisen wirklich ausgeschaltet? Das ist völlig normal. Bei zwangsgestörten Menschen geht das Kontrollbedürfnis jedoch weit darüber hinaus. Studien zeigten, dass 3 bis 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung von Zwängen betroffen sind, die sie im Alltag einschränken. Laut Fachleuten suchen Patienten oft erst nach vielen Jahren ärztliche Hilfe. Therapeuten setzen sie oft schrittweise ihren Ängsten aus. So lernen sie, dass nichts Schlimmes passiert, wenn sie den Zwangsgedanken nicht folgen.
Information und Beratung
Gesellschaft für Zwangsstörungen, Tel. 071 353 81 31, Zwaenge.ch
Website mit Infos für Betroffene: Zwangsstoerung.ch