Vor fünf Jahren liess Hans-Jürgen Biese sein Herz in der Luzerner Klinik St. Anna untersuchen. Denn der heute 81-Jährige aus Horw LU hatte einige Zeit ein seltsames «Chrüsele» in der Brust gespürt. «Der Arzt stellte fest, dass ich Vorhofflimmern habe.» Das ist eine der häufigsten Störungen des Herzrhythmus. Weil das Blut langsamer fliesst, verklumpt es eher. Dann droht ein Schlaganfall, eine Lungenembolie oder ein Herzinfarkt. Deshalb erhielt Hans-Jürgen Biese schliesslich Xarelto. Dieses Medikament gehört zu den neuen Blutverdünnern, die vor rund zehn Jahren ihren Siegeszug antraten. Ähnliche Mittel sind Eliquis, Pradaxa und Lixiana.
Zuvor verschrieben Ärzte bei Vorhofflimmern den bewährten Blutverdünner Marcoumar. Doch die neuen Pillen verdrängen ihn immer mehr. Ihr Vorteil laut Bieses Arzt: Patienten müssen nicht regelmässig testen lassen, ob das Blut zu stark oder zu schwach verdünnt sei.
Seit ein paar Jahren empfiehlt auch die Europäische Gesellschaft für Kardiologie, den neuen Pillen den Vorzug zu geben. Diese Mittel sollen ebenso gut oder besser vor Schlaganfall und Herzinfarkt schützen – und weniger Nebenwirkungen verursachen. Dieses Fazit zogen Studien der Hersteller.
Doch jetzt zeigt eine unabhängige Studie aus Deutschland: Die neuen Blutverdünner schützen Patienten mit Vorhofflimmern weniger gut, als Pharmafirmen behaupten. Sabrina Müller von der Universität Wismar analysierte mit ihrem Team die Daten von rund 75000 Patienten. Die eine Hälfte schluckte Marcoumar, die andere einen der neuen Blutverdünner Xarelto, Eliquis oder Pradaxa. Lixiana erfassten die Forscher nicht, weil das Mittel erst 2015 auf den Markt kam.
Das Resultat: Die neuen Blutverdünner verhindern nur bei 282 von 10000 Patienten einen Schlaganfall. Bei der Marcoumar-Gruppe waren es 385. Zum Vergleich: Ohne Therapie würden rund 500 Personen einen Schlaganfall erleiden, so die Schweizerische Herzstifung (siehe Grafik im PDF). Auch vor Herzinfarkten und Embolien schützten die neuen Mittel weniger gut als Marcoumar. Bei den Nebenwirkungen zeigten sie ebenfalls keine Vorteile. Im Gegenteil – die Patienten hatten fast doppelt so viele schwere Blutungen.
Marcoumar ist bewährt und günstig
Zudem sind die neuen Blutverdünner sehr teuer. Eine durchschnittliche Tagesdosis kostet Fr. 3.50 bis 4.–. Bei Marcoumar zahlt man hingegen nur 20 Rappen.
Immer mehr Ärzte sehen die neuen Blutverdünner deshalb kritisch. Claudia Stöllberger, Medizinprofessorin an der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, sagt: «Ich sehe keinen Sinn, für Medikamente mit unsicherem Nutzen ein Vielfaches an Geld auszugeben.» Auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft kam im November 2019 zum Schluss, dass die neuen Mittel nur wenigen Patienten Vorteile bringen. Die Kommission empfiehlt sie vor allem dann, wenn der Blutgerinnungswert unter Marcoumar stark schwankt oder regelmässige Kontrollen nicht möglich sind. Arzt Etzel Gysling aus Wil SG sagt: «Sie können für einzelne Patienten gut sein – zum Beispiel, weil sie weniger riskante Wechselwirkungen mit anderen Wirkstoffen verursachen.»
Für die meisten Patienten hingegen ist das günstige Marcoumar noch immer die beste Wahl. Fachleute raten, dieses Mittel vorzuziehen, wenn man damit den Blutgerinnungswert stabil halten kann. Zwar muss man dafür regelmässig zum Arzt. Doch Gysling sieht darin einen Vorteil: «Dabei kann der Arzt auch Blutdruck, Herz und andere wichtige Funktionen überprüfen.» Der bewährte Blutverdünner ist auch am besten, wenn man ein hohes Risiko für Blutungen in Magen und Darm hat. Ebenso bei Patienten, deren Nieren geschwächt sind. Die Wiener Professorin Claudia Stöllberger sagt: «Je kränker ein Patient ist und je mehr Medikamente er nehmen muss, umso eher verschreibe ich Marcoumar.» Zudem gebe es bei diesem ein zuverlässiges Gegenmittel, um starke Blutungen zu stoppen (siehe Kasten).
Laut den Herstellern ist die Studie aus Deutschland mit Vorsicht zu interpretieren und eignet sich nicht für den Vergleich verschiedener Medikamente. Im Gegensatz dazu würden die grossen Zulassungs- und Anwendungsstudien klare Vorteile der neuen Blutverdünner aufzeigen. Bayer verweist darauf, dass die europäische Arzneimittelbehörde ein Gegenmittel für Xarelto zugelassen habe. Bristol Myers Squibb schreibt, dass bei Eliquis die regelmässigen Kontrolluntersuche beim Arzt wegfallen. Unter anderem deshalb sei der höhere Preis gerechtfertigt. Darauf verweist auch Hersteller Daiichi Sankyo. Mit Lixiana gebe es auch weniger schwere Blutungen, was die Langzeitkosten vermindere. In Notfallsituationen hätten Ärzte verschiedene Möglichkeiten, die Wirkung von Lixiana aufzuheben.
Das Problem mit den Gegenmitteln
Blutverdünner bremsen das Gerinnen des Bluts. Das schützt vor Schlaganfall und Herzinfarkt. Der Nachteil: Es kann zu schweren Blutungen kommen, etwa im Magen oder Darm. Um sie zu stoppen, braucht es ein Gegenmittel. Beim bewährten Blutverdünner Marcoumar ist das Vitamin K und kostet nur 2 Franken. Es neutralisiert seine Wirkung in wenigen Stunden.
Doch bei den neuen Mitteln ist das Problem nicht gelöst. In der Schweiz ist nur für Pradaxa ein Gegenmittel zugelassen: Praxbind. Doch laut der deutschen Zeitschrift «Gute Pillen, schlechte Pillen» ist die Datenlage unbefriedigend: Es gebe «zu viele Unklarheiten», um die Wirkung zu beurteilen. Dies gelte auch für Ondexxya, das Gegenmittel für die anderen neuen Blutverdünner. Es ist bisher nur in den USA und in der EU zugelassen.
Beide Gegenmittel sind sehr teuer: Bei Praxbind kostet eine Behandlung rund 3000 Franken, bei Ondexxya 20 000 bis 35 000 Euro. Bei Patienten mit neuen Blutverdünnern müssen Ärzte deshalb oft zu anderen Mitteln greifen, um schwere Blutungen zu stillen, etwa zu Konzentraten mit Blutgerinnungsfaktoren. Laut der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» hat man damit bei bis zu 8 von 10 Patienten Erfolg.
Hersteller Portola schreibt, dass Zulassungsbehörden und Fachgesellschaften den Nutzen von Ondexxya für «durchaus ersichtlich» halten. Auch seien mehrere Studien zum Nutzen in Arbeit. Laut Boehringer überwiegen bei Praxbind die Vorteile.
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