Vor kurzem brachte Roche die Spritze Vabysmo auf den Markt. Ärzte spritzen das Mittel direkt ins betäubte Auge. Vabysmo soll gegen die feuchte Makula-Degeneration helfen. Bei dieser Krankheit wachsen unter der Netzhaut des Auges winzige Blutgefässe. Dadurch verändert sich die Mitte der Netzhaut, die Makula. Betroffene sehen immer weniger gut. Ohne Medikamente verlieren sie innert Wochen einen Grossteil der Sehkraft. Vabysmo verhindert, dass sich weitere Gefässe bilden. Das Neue daran: Es hemmt gleich zwei Eiweisse. Bisherige Mittel hemmen nur ein einziges Eiweiss, den sogenannten Wachstumsfaktor A.
Trotzdem zweifeln Fachleute am Nutzen von Vabysmo. Denn das Mittel wirkt nicht besser als die bisher verwendeten Spritzen (Tabelle im PDF). In Studien erhielten Patienten alle 4 Wochen eine Spritze, danach je nach Zustand alle 8, 12 oder 16 Wochen eine weitere. Nach knapp einem Jahr erkannten Patienten im Durchschnitt 6,2 Buchstaben mehr. Zum Vergleich: Patienten, welche die bewährte Spritze Eylea bekamen, erkannten 5,9 Buchstaben mehr. Damit fiel das Resultat ungefähr gleich aus. Wolfgang Becker-Brüser ist Herausgeber der Zeitschrift «Arznei-Telegramm». Er sagt: «Ein zusätzlicher Nutzen hat sich nicht gezeigt.»
Mehr Nebenwirkungen mit neuer Methode
Es ist unklar, ob das Hemmen des zusätzlichen Eiweisses tatsächlich einen weiteren Nutzen hat. Das «Arznei-Telegramm» verweist auf Studien, in denen das Medikament Eylea mit dem zusätzlichen Hemmer kombiniert wurde: Sie zeigten keinen Vorteil. Möglicherweise nützt also lediglich das Hemmen jenes Eiweisses, auf das auch die anderen Spritzen einwirken. Zudem können Nebenwirkungen schwerwiegender sein. So kam es in den Studien häufiger zu entzündeten Augen als bei Patienten, die sich Eylea spritzen liessen.
Ein weiterer Punkt: Roche sagt, dass mit Vabysmo weniger Spritzen nötig seien. Doch das kann die Firma nicht beweisen. Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», sagt: «In den Studien wurde Eylea fix in zweimonatlichen Abständen gespritzt und nicht je nach Befund.» Somit sei klar, «dass die beiden Medikamente nicht fair verglichen wurden und eine Aussage zu besserer oder schlechterer Wirkung nicht möglich ist».
In den letzten Jahren sind mehrere teure Medikamente gegen die feuchte Makula-Degeneration auf den Markt gekommen. Zuletzt war es Beovu von Novartis. Das Problem: Patienten erlitten auch damit deutlich häufiger Entzündungen im Auge. So entzündete sich zum Beispiel die Innenhaut des Augenlids, selten waren sogar Blutgefässe der Netzhaut betroffen. Dies könne zu Blindheit führen, warnt Etzel Gysling (Gesundheitstipp 6/2020).
Die zwei ältesten Mittel Eylea und Lucentis wirken ähnlich und zeigen einen vergleichbaren Nutzen. Für Becker-Brüser ist Lucentis das «Mittel der Wahl», weil es am längsten erforscht ist. Damit machte auch Heidi Kälin (Name geändert) aus Einsiedeln SZ gute Erfahrungen. Sie stellte im letzten Sommer fest, dass sie beim Fernsehen oder Lesen nicht mehr deutlich sah. Ihr Augenarzt diagnostizierte feuchte Makula-Degeneration. Er empfahl ihr die Spritze Lucentis. Zuerst habe ihr dies grosse Angst gemacht, erzählt die 86-Jährige. Trotzdem entschied sie sich für die Therapie. Nach fünf Spritzen sagt sie nun: «Lucentis hat bei mir sehr gut gewirkt.»
Krebsmedikament Avastin könnte helfen
Diese Mittel haben eines gemeinsam: Sie sind sehr teuer. Dabei gäbe es ein Mittel mit demselben Wirkstoff wie bei Lucentis: das Krebsmedikament Avastin. Hersteller Roche hat die Zulassung für die Augenkrankheit nie beantragt. Experte Becker-Brüser hält es aber für «vertretbar», die Spritze bei Netzhautproblemen zu verwenden. Das heisst: Ärzte könnten Avastin auf eigenes Risiko spritzen. Sie müssen Patienten darauf aufmerksam machen, dass sie es «off-label» einsetzen, also ausserhalb des von den Heilmittelbehörden zugelassenen Gebrauchs.
In anderen Ländern greifen Ärzte eher zu Avastin. In der Schweiz ist das Mittel seit Jahren ein Politikum. Im Herbst reichte die Genfer SP-Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle einen Vorstoss dazu ein. Sie forderte, dass ein Arzneimittel auch zugelassen wird, wenn die Pharmaindustrie nicht ausdrücklich um die Zulassung ersucht hat. So könne man jährlich Kosten von 47,5 Millionen Franken einsparen. Der Bundesrat lehnte dies ab, mit dem Verweis auf eventuelle Schäden, für die der Bund haften müsste.
Generell gilt: Um sich vor der Makula-Degeneration zu schützen, sollte man mit Rauchen aufhören: Zigarettenrauch erhöht das Risiko, zu erkranken. Grünes Gemüse wie Rosenkohl, Broccoli und Nüsslisalat kann ebenfalls vor der Krankheit schützen. Betroffene sollten ausserdem eine Sonnenbrille tragen, um die Augen abzuschirmen.
Die Hersteller verweisen auf die Fach- und Patienteninformation zu ihren Spritzen. Novartis schreibt, die Kosten könne man nicht beziffern, da Patienten unterschiedlich viele Spritzen benötigen. Laut Roche haben Zulassungsstudien für Vabysmo gezeigt, dass über 60 Prozent der Patienten im zweiten Jahr der Therapie nur noch alle vier Monate eine Spritze brauchten. Die Zulassung von Avastin für Makula-Degeneration würde «keinen zusätzlichen medizinischen Nutzen bringen».