Jürg Siegrist aus Frauenfeld TG war 22, als er eine taube Stelle am Unterarm bemerkte: «Die Stelle wurde immer grösser, innerhalb von Tagen war die ganze rechte Seite gefühllos.» Es stellte sich als Multiple Sklerose (MS) heraus. Bei dieser Krankheit greifen die eigenen Abwehrzellen die Nerven in Hirn und Rückenmark an. Die Folgen: taube Glieder, Krämpfe und verschwommenes Sehen. MS kommt in Schüben. Tagelang sind die Beschwerden stark, dann flachen sie ab.
In den letzten Jahren sind viele Medikamente auf den Markt gekommen, um solche Schübe zu lindern. Die meisten sind Spritzen oder Infusionen. Sie sind umstritten, teuer und haben oft schwere Nebenwirkungen.
Eines dieser Mittel ist Lemtrada (siehe Tabelle im PDF). Kostenpunkt der Behandlung: 42 000 Franken pro Jahr. Das Medikament enthält gentechnisch hergestellte Antikörper. Sie sollen die Immunzellen zerstören, welche die Nerven in Hirn und Rückenmark angreifen. Das Medikament kann zwar so die Krankheit bremsen. Doch die Abwehrschlacht schwächt den Körper. Wegen Lemtrada werden Patienten anfällig auf Bakterien, welche die Hirnhaut entzünden und das Blut vergiften: Listerien.
Zudem kam aus, dass sich bei Patienten die Gallenblase entzündete. Es traten Schlaganfälle und Hirnblutungen auf, bei einigen Patienten griff das Mittel die Leber und andere Organe an. In der Schweiz erkrankten in den letzten 5 Jahren 43 Personen schwer, nachdem sie Lemtrada bekommen hatten. Seit kurzem gilt: Ärzte dürfen die Infusionen nur noch an ausgewählte Patienten in gut ausgerüsteten Spitälern verabreichen – und das nur, wenn mindestens eine andere Therapie nicht angeschlagen hat.
Ein anderes Mittel zogen die Hersteller gar zurück, nur ein Jahr, nachdem es auf den Markt gekommen war: Zinbrynta. Auch dieses Mittel enthielt Antikörper und konnte die Krankheit bremsen. Doch es entzündete das Hirn und schädigte die Leber.
Ärzte sollten neue Mittel kritischer prüfen
Nicht nur Antikörper, auch Medikamente von anderen Wirkstoffgruppen sind riskant: Dazu gehören Immunsuppressiva und Immunmodulatoren wie Gilenya, Zeposia oder Aubagio. Der Basler Arzt Urspeter Masche von der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik» rät von diesen Mitteln ab. Der Grund: Sie sind meist wenig erprobt und können schwere Schäden verursachen.
Das zeigte sich bei Gilenya. Kosten pro Jahr: 21 000 Franken. 2012 verstarb eine US-Amerikanerin, nachdem sie das Mittel eingenommen hatte. Sie hatte ein Herzleiden. Seither ist Gilenya bei Patienten mit Herzkrankheiten nicht mehr erlaubt. Später musste Novartis mitteilen, dass Gilenya auch Krampfanfälle, Haut-, Lymphknoten- und Gebärmutterkrebs verursachen kann.
Die deutsche Ärztin Jutta Scheiderbauer steht der MS Stiftung Trier in Deutschland vor. Sie hat selbst MS und sagt, dass viele Ärzte neue Medikamente zu wenig kritisch prüfen. In einem Artikel in der Zeitschrift «Medical Tribune» im letzten Jahr forderte sie Ärzte auf, neue Mittel zurückhaltend zu verschreiben: Oft sei nicht bekannt, wie sie über längere Zeit wirken.
Eine Alternative sind Interferone. Dazu gehören die Medikamente Avonex, Rebif und Betaferon. Sie hemmen Entzündungen und steuern die Abwehr. Die Ärzte haben schon Erfahrung mit ihnen. Zwar können auch sie Virusinfekte fördern oder Depressionen auslösen: Doch die Nebenwirkungen sind bekannt, es gibt kaum Überraschungen. Arzt Urspeter Masche sagt: «Interferone gelten als Standardtherapie.»
Jutta Scheiderbauer empfiehlt auch alternative Behandlungen: «Viele Patienten profitieren davon.» In der Physiotherapie etwa lernen Patienten, ihre Bewegungen besser zu koordinieren und die versteiften Muskeln in den Griff zu bekommen. Das weiss auch Jürg Siegrist: «Dank der Physiotherapie kann ich wieder besser gehen.»
Hersteller Sanofi-Aventis sagt, bei Lemtrada sei das Infektionsrisiko nach dem ersten Behandlungszyklus am grössten und nehme dann ab. Zu Aubagio gebe es Langzeituntersuchungen mit Daten von bis zu 12 Jahren. Biogen schreibt, Tysabri zerstöre Immunzellen nicht, sondern hindere sie nur daran, ins Gehirn zu gelangen.
Hersteller verharmlosen Nebenwirkungen
Novartis schreibt, Gilenya werde seit vielen Jahren verwendet und sei eine «wichtige Behandlungsoption». Merck erklärt, die Mehrheit der Nebenwirkungen von Rebif würden leicht verlaufen und wieder verschwinden. Und bei Mavenclad seien schwere Infektionen nicht häufiger auftgetreten als in klinischen Studien.
Auch Teva sagt, Brustschmerzen, Herzklopfen und Atemnot gingen bei Copaxone rasch wieder zurück. Roche hält fest, mit Ocrevus blieben wichtige Funktionen des Immunsystems erhalten. Bayer schreibt zu Betaferon, auch andere MS-Medikamente würden Depressionen begünstigen.
Gratis-Merkblatt: «Medikamente bei MS»
Zum Herunterladen unter www.gesundheitstipp.ch oder zu bestellen bei: Gesundheitstipp, «MS», Postfach, 8024 Zürich.
Aufruf: Haben Sie Erfahrung mit MS?
Schreiben Sie uns: Redaktion Gesundheitstipp, «Multiple Sklerose», Postfach, 8024 Zürich, redaktion@gesundheitstipp.ch