Toni war ein erfahrener und vorsichtiger Bergsteiger – auch auf der Expedition zum Gipfel des San Lorenzo in Patagonien. Dieser liegt 3700 Meter über Meer und ist umgeben von wunderschönen Eisformationen. Toni ging dreissig Meter vor mir. Verbunden waren wir über ein Seil. Plötzlich löste sich das Eis über uns und begrub Toni unter meterhohen Massen. Die Lawine stoppte zwei Meter vor meinen Füssen. Ich wusste sofort: Das kann kein Mensch überleben.
Ich musste mich vom Seil lösen und machte mich an den Abstieg. Nach zwölf Stunden erreichte ich in Begleitung von zwei Bergsteigern das Basislager. Hier konnte ich das erste Mal in Ruhe meine Gedanken sammeln. Mir wurde klar: Ich hatte eben ein neues Leben erhalten. 47 Jahre alt war ich damals.
Zurück in der Schweiz, musste ich Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden. Ich will nichts schönreden, mein Schmerz war zeitweise enorm. Ich weinte oft, und das tat mir gut – wie auch all die Menschen, die mich mit viel Feingefühl begleiteten. Einige Leute waren aber auch verunsichert: Wie sollte man mir nach diesem Unglück begegnen? Ich sprach sie offen an und bat um normalen Umgang. Das wirkte. Überhaupt waren Orte wichtig, an denen das Leben wie gewohnt weiterging – etwa an der Berufsschule, wo ich als Lehrerin arbeitete. Die jungen Menschen fühlten mit mir, schonten mich aber nicht.
Schwierig war es dort, wo Toni und ich unsere Beziehung gemeinsam aufgebaut und geteilt hatten. Es fühlte sich an, als müsste ich in einem vertrauten Haus Raum für Raum neu einrichten. Es war unglaublich anstrengend, allein zu essen, liebgewonnene Gewohnheiten loszulassen oder von der Trauer immer wieder überwältigt zu werden. Mit der Zeit entwickelte ich Strategien und fand Rituale, die mir guttaten. So begann ich, Toni Briefe zu schreiben, und versprach ihm, mich weiterhin gesund zu ernähren. Oder ich stellte sicher, dass ich in meiner Handtasche den Discman dabeihatte, um Lieder von der wunderbaren Mercedes Sosa hören zu können. Von ihrer Musik fühlte ich mich getragen. Gracias a la Vida.
Ein Jahr später reiste ich in Begleitung meines Patenkindes wieder nach Patagonien ins Basislager. Als ich am Fuss des San Lorenzo mit einem Strauss gepflückter Blumen in der Hand zum Gipfel blickte, begann ich unverhofft fürchterlich zu weinen. Da wurde mir klar: Ich stehe am Grab von Toni.
Bei der gleichen Reise reifte der Plan, im Basislager ein Andenken an ihn zu schaffen. Das «Refugio Toni Rohrer» ist heute für Bergsteiger ein Startpunkt für den Aufstieg zum San Lorenzo. Die Hütte wird geschätzt, das weiss ich aus Einträgen im Gästebuch. Jemand schrieb: «Was für eine schöne Form, sich an einen lieben Menschen zu erinnern.»
Vier Jahre später wagte ich auch eine neue Beziehung, die bis heute besteht. Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich mit meinem Partner die Liebe zur Natur und zu den Bergen teilen kann – und dass ich die Feldenkraismethode kennenlernte. Sie führte mich in Körper und Geist zu einer befreienden Leichtigkeit. Diese Erfahrung gebe ich heute als Lehrerin weiter.
Mein Leben ist gut gekommen, und meine Neugier hält an. Denke ich an Toni zurück, fühle ich keinen Schmerz, sondern Erfüllung. Unser Geist von damals weht bis heute in mein Leben, etwa wenn ich jedes Jahr zwei Wochen lang eine Berghütte im Tessin führe – selbständig und voller Tatendrang.
Trauern: Wenn ein geliebter Mensch stirbt
- Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross unterteilte die Trauerarbeit nach dem Tod eines geliebten Menschen in fünf Phasen. Zuerst verdrängen Betroffene den Tod, dann folgt die Wut – erst jetzt realisieren sie den Verlust. In der Phase der Verhandlung beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod, worauf die Verzweiflung folgt. Oft kommt es dabei zu Depressionen, Einsamkeit, Schlaf- und Essstörungen. Am Ende steht die Akzeptanz, der Verlust wird angenommen.
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