Josef Stutz liebt Weihnachtsbeleuchtungen. «Sie erinnern mich an meine Kindheit. Das ist ein schönes Gefühl», sagt der 76-Jährige aus Baden AG. Um die Lichter in Ruhe zu geniessen, schlendert er jedes Jahr in der Nacht durch die Stadt – nachts deshalb, «weil ich keine Menschenmassen mag», erklärt er. Im Alltag steht Stutz immer um fünf Uhr am Morgen auf, stellt seine Mokkamaschine auf den Herd und wartet, bis der Duft des Kaffees in der Luft liegt. Seinen Espresso trinkt der Aargauer bei Kerzenlicht im Wohnzimmer.
«Dabei bin ich in der absoluten Ruhe und fühle mich wohl.» Bevor Stutz die Wohnung für sein Hobby als Hundesitter verlässt, macht er zudem Übungen in einer chinesischen Kampfkunst. «Die Übungen machen meine Gelenke geschmeidig und stärken meinen Körper», sagt er. Den Tag lässt er beim Brunnen vor seinem Haus ausklingen. Dort isst Stutz einen Apfel und geniesst den Blick in die Natur. Fachleute bezeichnen solche alltäglichen Gewohnheiten als Rituale. Dazu gehören auch Feste wie Weihnachten.
Sie gliedern das Leben, geben Halt und Orientierung. «Ohne meine Rituale möchte ich nicht sein», sagt Josef Stutz. Sie schenken mir einen tiefen inneren Frieden – trotz chronischen Schmerzen und Krankheit.» Er leidet an Arthrose und lebt seit 2006 mit der Diagnose Prostatakrebs. Der Sozialpsychologe Christian Fichter von der Kalaidos-Fachhochschule in Zürich bestätigt: «Rituale spielen eine wichtige Rolle im Leben. Sie können das Wohlbefinden steigern, Stress oder Angstzustände reduzieren und Stabilität geben.»
Gerade bei Krisen und in hektischen Zeiten seien Rituale wie eine Art Handgriff, so Fichter. «Dann können einfache Handlungen Trost spenden, Sicherheit oder Halt vermitteln.»
Rituale stärken neben der Psyche auch den Körper
Mit Worten erreiche man dieses Wohlbefinden meist nicht, sagt der Sozialpsychologe. So könne zum Beispiel eine Atemübung oder eine kurze Meditation vor einer Rede oder einem Vorstellungsgespräch helfen, den Puls zu senken und die Angst oder die Nervosität in den Griff zu bekommen. Auch ein warmes Bad am Abend, Musikhören oder das Lesen eines Buches könne in stressigen Zeiten beruhigend wirken. Fichter: «Rituale wirken sowohl auf der psychischen als auch auf der körperlichen Ebene.»
Eine neue Studie im «International Journal of Social Psychiatry» belegt den positiven Effekt von Ritualen auf Körper und Psyche. Autoren sind zwei Psychiater des King’s College London. Sie bestätigen, dass man mit dem Wiederholen von vertrauten Handlungen Stress und Angst reduzieren könne. Hinzu kommt, dass Feste oder religiöse Zeremonien soziale Bindungen stärken und das Gefühl von Zugehörigkeit geben. Sie schenken dem Leben Sinn, können in bestimmten Situationen sogar trösten oder helfen, mit Übergängen zurechtzukommen.
Das gilt nicht allein für verbreitete Rituale wie Silvester, Geburtstage oder Beerdigungen. Auch aus kleinen, persönlichen Gewohnheiten lässt sich Kraft schöpfen. «Sie geben in einer unsicheren Welt Beständigkeit und sind jederzeit abrufbar», sagt Christian Fichter. Rituale stehen ausserdem für Genuss – sei es für den Kaffee bei Kerzenlicht oder die Weihnachtsbeleuchtung im Dezember wie bei Josef Stutz. Fichter sagt: «So kann man schöne Momente und lebenswerte Aspekte geniessen – trotz Schmerzen oder Krankheit.»
Rituale sind kein Allheilmittel
Um von der Kraft der Rituale zu profitieren, braucht es nicht viel: Auch ein Glühwein am Feuer oder ein Feierabendbier mit Freunden tut ab und zu gut. «Solche Rituale läuten den Übergang in den Abend oder das Wochenende ein», erklärt Fichter. Das vermindere das Gefühl von Stress ebenfalls. Doch Vorsicht: Das Pflegen von Ritualen hat Grenzen. Wer es damit übertreibt, sollte laut Christian Fichter bei sich genauer hinschauen. «Kann man Probleme nicht selbst bewältigen, nimmt man besser professionelle Hilfe in Anspruch.»
So gestalten Sie Ihr eigenes Ritual
• Legen Sie fest, wozu das Ritual dienen soll. Wollen Sie damit zum Beispiel die Geburt eines Enkels feiern? Oder möchten Sie einen Verstorbenen loslassen?
• Suchen Sie sich ein Symbol aus. Das kann beispielsweise eine Kerze sein.
• Wählen Sie einen Ort aus, an dem Sie sich wohlfühlen. Das kann die Wohnung oder draussen im Wald sein.
• Zünden Sie die Kerze an und denken Sie intensiv an die von Ihnen gewählte Person. Versuchen Sie zu spüren, was in Ihnen vorgeht.
• Formulieren Sie einen Vorsatz zur Person, an die Sie denken.
• Falls die Gedanken Sie belasten: Notieren Sie sie auf einem Zettel. Zerknüllen Sie diesen, und werfen Sie ihn fort.
• Schliessen Sie das Ritual mit dem Ausblasen der Kerze ab.