Alex Spinnler, sind Sie ein mutiger Mensch?
Nein. Aber als ich den Mann sah, der auf den Schienen lag, war für mich klar, dass ich ihm helfen musste. Es waren keine Leute auf dem Perron ausser mir und meiner Freundin. Sie rannte reflexartig davon. Ich lief ihr zuerst nach und kehrte dann um.
Sie haben sich selber in Gefahr gebracht, um den Mann zu retten.
Das war mir bewusst. Doch mein Drang zu helfen war stärker. Ich sah, dass beim Perron ein Warnlicht blinkte. Der Zug konnte jeden Moment kommen. Es musste also schnell gehen.
Was haben Sie dann gemacht?
Ich sprang aufs Gleis und sagte dem Mann, er solle sofort aufstehen. Er reagierte nicht. Deshalb packte ich ihn am Gürtel und hievte ihn aufs Perron. Dann fuhr ein Güterzug vorbei.
Erschraken Sie, als der Zug kam?
Ich achtete nicht darauf. Ich war in einem Adrenalinrausch. Erst nachher sagte ich mir: Scheisse, was hast du für einen Blödsinn gemacht?! Du bist aufs Gleis gegangen und hast dich selber in Lebensgefahr gebracht.
Warum lag der Mann auf dem Gleis?
Er wollte sich umbringen. Ich sah, wie er seine Jacke auszog und sich quer auf die Schienen legte.
Sie hätten dem Zug entgegenrennen können, um den Lokführer zu warnen. Das wäre für Sie weniger gefährlich gewesen.
Das hätte nichts gebracht. Ein Zug hat einen extrem langen Bremsweg. In einer Minute kann ich nur etwa 200 Meter weit rennen. Das hätte nicht genügt, um den Zug rechtzeitig zu stoppen.
Wie reagierte der Mann?
Ich konnte nicht mit ihm reden, weil er nicht Deutsch sprach. Ich hielt ihn auf dem Perron fest, damit er nicht nochmals aufs Gleis konnte. Nach wenigen Minuten kam die Polizei und nahm den Mann mit. Eine Anwohnerin hatte die Polizei gerufen. Dann fuhr ich mit meiner Freundin nach Basel. Wir gingen in den Ausgang und feierten ihren Geburtstag.
Sie hatten sich das Fest wohl anders vorgestellt.
Ja. Im Zug lagen meine Nerven blank. Ich zitterte am ganzen Körper extrem. Ich schwitzte und hatte einen rasenden Puls. Ich glaube, das waren die Nachwirkungen des Adrenalinschubs.
Hatten Sie nachher Albträume?
Nein. Aber eine Zeitlang konnte ich nachts nicht einschlafen. Mir ging durch den Kopf, was hätte schief gehen können. Ich hatte auch ein ungutes Gefühl, wenn ich alleine auf dem Bahnhof war. Ich hatte Angst, dass wieder jemand auf die Schienen springen könnte.
Haben Sie vom Mann noch etwas gehört?
Nein. Ich überlegte mir sehr oft, warum er aufs Gleis gegangen war. Aber jetzt ist mir das eigentlich egal. Ich habe ihn gerettet – das ist für mich das Wichtigste.
Zur Person: Alex Spinnler
Der 27-jährige Alex Spinnler ist Landschaftsgärtner. Er wohnt in Rheinfelden AG. Für die Rettung eines Mannes vor einem herannahenden Zug erhielt er die «Bronzene Ehrenmedaille» der Carnegie-Stiftung für Lebensret- ter/innen.