Als junge Frau stiess Heidi Lehner beim Volleyball so fest mit einer Mitspielerin zusammen, dass sie sich dabei mehrere Halswirbel verletzte. Die Verletzung heilte mehr schlecht als recht. «Ich hatte immer wieder Schmerzen und schlief nicht gut», sagt sie. Mit dem Schlafmittel Stilnox konnte sich die heute 67-jährige Zürcherin wieder entspannen. Der Hausarzt verlängerte das Rezept immer wieder – über Jahrzehnte. Sie erhöhte nach und nach die Dosis: «Am Schluss nahm ich pro Tag 20 Tabletten», sagt sie.
Vor fünf Jahren realisierte sie: Sie war süchtig – und schaffte den Entzug nicht allein. Im Herbst 2018 trat sie ins Sanatorium Kilchberg ein. Der Entzug in der Klinik war hart: «Es war der Tiefpunkt meines Lebens», erinnert sie sich. Sie zitterte, ihr war schwindlig und übel. In der Nacht schwitzte sie dreimal die Bettlaken durch. Tagsüber war sie rastlos und konnte nicht einmal eine halbe Stunde ruhig vor dem Fernseher sitzen. «Nach drei Wochen war das Schlimmste überstanden», sagt sie.
Wie Heidi Lehner geht es vielen Leuten: Ärzte verschreiben ihnen starke Medikamente, die schon nach wenigen Wochen süchtig machen und beim Absetzen schwere Entzugssymptome auslösen können (siehe Tabelle im PDF). 2022 schluckte einer von fünfzig täglich Schlaf- und Beruhigungsmittel, jeder Hundertste nahm starke Schmerzmittel. Das zeigen aktuelle Zahlen des Bundesamts für Gesundheit.
Senioren bekommen von ihren Ärzten besonders oft solche Mittel verschrieben. Christian Lorenz, Leiter des medizinisch-therapeutischen Bereichs der Zürcher Forel Klinik, sagt: «14 Prozent der über 75-Jährigen nehmen über längere Zeit Schlaf- und Beruhigungsmittel ein.»
Bei älteren Leuten nimmt das Risiko für Stürze zu
Besonders riskant sind Benzodiazepine, Opioide und Schlafmittel aus der Gruppe der sogenannten Z-Medikamente (siehe Tabelle). Benzodiazepine wie Temesta oder Xanax sind starke Beruhigungsmittel. Opioide wie Tramal oder Durogesic wirken gegen Schmerzen. Heidi Lehners Stilnox gehört zu den Z-Medikamenten. Sie heissen so, weil die Wirkstoffe mit dem Buchstaben Z beginnen.
Marc Vogel, Suchtspezialist am Universitätsspital Basel, erklärt: «Die Medikamente wirken auf das Belohnungszentrum des Gehirns.» Nach der Einnahme wird Dopamin freigesetzt. «Der Botenstoff verursacht Glücksgefühle, löst Ängste und lindert Stress.» Das Verlangen nach diesen Gefühlen verleitet zu weiterem Konsum. Vogel: «Patienten bekommen die Mittel gegen Schmerzen oder Schlafprobleme – dann machen sie weiter, weil sie sich damit besser fühlen.» Das Risiko: Sucht.
Dazu kommt: Wer Benzodiazepine und Z-Medikamente über längere Zeit einnimmt, hat ein erhöhtes Risiko für Stürze. Das ist vor allem bei älteren Leuten ein Problem. Auch die Unfallgefahr beim Autofahren steigt, weil man weniger rasch reagieren kann.
Fachleute kritisieren seit Jahren: Ärzte verschreiben Mittel wie Tramadol oder Oxycodon leichtfertig (Gesundheitstipp 6/2019). Jetzt zeigt eine neue Studie der Universität Bern die Dimension auf: 2018 verschrieben Ärzte 88 Prozent mehr von diesen Schmerzmitteln als zehn Jahre zuvor. Patienten bekamen sie selbst bei harmlosen Verletzungen wie Prellungen, Verstauchungen oder oberflächlichen Schnittwunden.
Etzel Gysling ist Hausarzt und Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik». Er kritisiert: «Ich halte es für einen grossen Fehler, dass man Opioide für alle möglichen Schmerzen verschreibt.» Diese seien nur bei akuten, starken Schmerzen oder Krebskrankheiten angezeigt. Das Problem: Im Spital verschriebene Medikamente würden oft zu lange nach dem Austritt auf der Medikamentenliste bleiben.
Schlafmittel absetzen härter als Heroinentzug
An andere Medikamente gewöhnt sich der Körper sehr stark, sodass man nicht mehr gut von ihnen loskommt. Dazu gehören Antidepressiva, aber auch vermeintlich harmlose Mittel wie Nasensprays oder Abführmittel mit Senna.
Laut Marc Vogel schaffen die meisten Patienten den Entzug zu Hause. Wichtig dabei: Die Mittel sollte man nie sofort absetzen, sondern schrittweise um 10 bis 25 Prozent reduzieren – und sich vom Hausarzt dabei beraten lassen. «So vermeidet man schlimme Entzugserscheinungen», sagt Vogel. Der Entzug von Benzodiazepinen kann zu epileptischen Anfällen oder gestörten Hirnfunktionen führen. «Bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für solche Komplikationen empfehlen wir den Entzug in einer Klinik», sagt Vogel. Christian Lorenz sagt: «Der Entzug von solchen Beruhigungsmitteln wird von den Betroffenen als sehr hart beschrieben – härter als der Entzug von Heroin oder Kokain.»
Heidi Lehner schaffte ihren körperlichen Entzug in ein paar Wochen. Doch sie sagt: «Die Nagelprobe folgte zu Hause.» Eine Psychotherapie und der christliche Glaube halfen ihr. Zu lange habe sie Körper und Seele mit Stilnox übersteuert und «zum Funktionieren gebracht».
Die Ärzteorganisation FMH schreibt, die Befürchtung zunehmender Abhängigkeiten sei nicht angebracht. Die erwähnte Studie habe gezeigt, dass sich die Behandlungsdauer mit Opioiden verkürzt. Die Hersteller verweisen auf die Packungsbeilagen, in der Risiken erwähnt sind. Deroxat-Hersteller GSK schreibt, Absetzsymptome würden nach zwei Wochen von alleine abklingen. Sanofi schreibt, Macrogole und Bisacodyl seien Mittel der ersten Wahl bei Verstopfung.
So vermeiden Sie Medikamentensucht
- Nehmen Sie bei Schlafstörungen möglichst gar keine Medikamente.
- Planen Sie jeweils Anfang Woche, in welchen zwei bis drei Nächten Sie unbedingt schlafen müssen. Nehmen Sie dann die halbe Dosis.
- Nehmen Sie Schmerzmittel wie Oxycodon oder Tramal nur ein bei starken Schmerzen, Krebs oder nach Operationen.
- Suchen Sie bei Schlafproblemen, Ängsten und chronischen Schmerzen das Gespräch mit dem Hausarzt. Oft stecken seelische Ursachen dahinter.
- Chronische Schmerzen: Probieren Sie Methoden aus gegen Stress, zum Beispiel Meditation, Yoga und Massage.