Verena Brunner litt an einer Krankheit, die selten vorkommt: Ihr Körper bildete zu viele Blutzellen. Ärzte nennen diese Krankheit Polyzythämia vera. Rund eine von 100'000 Personen erkrankt pro Jahr daran. Das war sehr unangenehm für die 71-Jährige aus Belp BE: «Ich schwitzte nachts stark und hatte heftigen Juckreiz.» Dann veränderte sich ihre Krankheit dramatisch: Sie bekam Myelofibrose, eine lebensgefährliche Krankheit des Knochenmarks. Ab März 2019 gaben Ärzte ihr das Medikament Jakavi. Es kostet pro Jahr 28'700 Franken.
Laut dem Bundesamt für Gesundheit sind in der Schweiz rund 7 Prozent der Bevölkerung von seltenen Krankheiten betroffen. Das sind über eine halbe Million Leute – mehr als es Diabetiker gibt. Damit mehr Patienten mit einer seltenen Krankheit von Medikamenten profitieren können, haben die Behörden die Zulassungsregeln vereinfacht. Jetzt zeigt sich: Solche Medikamente sind zu einem riesigen Geschäft geworden. Fachleute nennen sie Orphan Drugs. Auf der Liste der Arzneimittelbehörde Swissmedic stehen 237 solcher Mittel – das sind drei Mal so viele wie vor zehn Jahren.
Wollen Hersteller solche Medikamente neu auf den Markt bringen, müssen sie keine vollständigen Studien zum Nutzen und zu den Risiken vorlegen. Und die Konkurrenz darf 15 Jahre lang keine Generika herstellen.
Vereinfachte Zulassung nützt nur Herstellern
Fachleute kritisieren, dass die vereinfachte Zulassung den Patienten nichts nütze. Eine Studie des «British Medical Journal» zeigte vor drei Jahren: Die meisten Medikamente wären auch ohne erleichterte Regeln auf den Markt gekommen. Für rund 95 Prozent der seltenen Krankheiten gibt es immer noch keine Medikamente. Die Hersteller jedoch fahren Milliardenprofite ein. Das ist möglich, weil sie die Medikamente extrem teuer verkaufen können. So kostet eine Behandlung mit Zolgensma fast zwei Millionen Franken.
Eine Auswertung des deutschen Gesundheitsinstituts IQWIG zeigt: Rund die Hälfte dieser Medikamente wirken nicht besser als bisherige, weniger teure Medikamente. Die Zeitschrift «Der Arzneimittelbrief» kritisiert, die Hersteller würden die Nutzen und die Risiken der Mittel häufig zu wenig gründlich untersuchen. Damit würden sie die Patienten gefährden und mit überhöhten Preisen das Gesundheitssystem belasten.
Pharmalobby kämpft gegen strengere Regeln
Fachleute fordern deshalb einen Systemwechsel. Die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle sagt: «Die Behörden sollten die Zulassungen strenger regeln.» Wenn es günstigere Medikamente mit vergleichbarer Wirkung gibt, müssten die Behörden diesen den Vorzug geben. Das sei wichtig, um das Ansteigen der Krankenkassenprämien zu bremsen.
Der Basler Arzt Urspeter Masche fordert von den Behörden die Einführung einer Kostenschwelle. Denn die Pharmafirmen würden sich schamlos bereichern – unter dem Vorwand, das Leben schwerkranker Patienten zu erleichtern.
Gegen strengere Regeln kämpft eine starke Lobby: Der Verband Pro Raris setzt sich laut eigenen Angaben für die «Interessen von betroffenen Patientinnen» ein. Pro Raris organisiert jedes Jahr Veranstaltungen am Tag der seltenen Krankheiten, dieses Jahr am 2. März. Der Verband ist eng mit der Pharmaindustrie verknüpft: Zehn Pharmaunternehmen finanzieren Pro Raris, darunter Roche, Sanofi, Pfizer und Vertex. Die IG Seltene Krankheiten macht Druck auf die Politik. Zu den Trägern gehören zwei Branchenverbände der Pharmaindustrie.
Bei Verena Brunner wirkte das Medikament Jakavi nicht besonders gut: Die Ärzte mussten die Dosis mehrmals erhöhen. Die Transplantation von Blutstammzellen hat ihr das Leben gerettet. «Heute geht es mir wieder gut», freut sie sich.
Das Bundesamt für Gesundheit sagt zur Kritik der Fachleute, es stimme nicht, dass es Medikamente zur Behandlung seltener Krankheiten zu wenig kritisch beurteile. Das Bundesamt vergleiche die Preise mit dem Ausland, und es vergleiche den Nutzen mit anderen Medikamenten. Die Hersteller müssten einen Teil der Kosten zurückzahlen.
Der Branchenverband Interpharma schreibt, die Medikamente seien für betroffene Patienten oft überlebenswichtig. Der Zulassungsprozess sei aufwendig und dauere länger als bei anderen Medikamenten. Pro Raris sagt, es sei nicht einfach, Geld aufzutreiben. Deshalb sei der Verband «glücklich» über die finanzielle Unterstützung der Pharmafirmen.