Wie geht es Ihnen nach einer Geburt?
Ich brauche danach Zeit für mich, am liebsten in der Natur. Meist schreibe ich auf, was ich erlebt habe. Manchmal muss ich weinen.
Weinen?
Ja – aus Dankbarkeit für das Wunder der Geburt. Und weil die Anspannung weg ist. Manchmal weine ich auch aus Verzweiflung, wenn etwas nicht so gut gelaufen ist.
Was zum Beispiel?
Wenn die Geburt anders verlief, als die Frau sich das vorgestellt hatte. Dann habe ich das Gefühl, dass ich nicht helfen konnte.
Wie wollen Sie den Frauen denn helfen?
Ich möchte ihnen vor allem mehr Selbstbewusstsein geben: Sie können darauf vertrauen, dass ihr Körper ein Kind gebären kann. Am glücklichsten macht es mich, wenn eine Frau ein schönes Geburtserlebnis hatte.
Eine Geburt ist ein intimes Ereignis. Ist es nicht unangenehm, eine Fremde dabei zu begleiten?
Die meisten Frauen lerne ich schon vor der Geburt kennen. Die Vertrautheit kommt schnell, und näher als bei einer Geburt kann man sich seelisch kaum sein.
Körperlich auch nicht, oder?
Genau. Aber nicht alle Frauen möchten meine körperliche Unterstützung. Oft genügt es schon, dass ich da bin und die Frau weiss, dass ich bei ihr bleibe – egal, was kommt.
Die längste Geburt dauerte 27 Stunden. Wie hielten Sie durch?
Ich habe stets Bananen, Schoggi und Müesliriegel dabei. Alles, was schnell Energie gibt. Das ist wichtig, damit ich der Frau oder dem Paar über die gesamte Zeit eine Stütze sein kann. Zudem achte ich darauf, möglichst ausgeschlafen und erholt an eine Geburt zu gehen.
Obwohl Sie vorher wochenlang auf Abruf sind?
Ja, dann schaue ich besonders auf mich, schlafe genügend und esse regelmässig. Es ist eine erholsame Zeit, auch wenn das Handy ständig dabei ist. Manchmal wache ich nachts auf und habe Angst, dass ich etwas verpasst habe.
Wie organisieren Sie den Alltag in dieser Pikettzeit?
Meine Familie ist natürlich informiert. Wenn ich mit jemandem abmache, sage ich, dass ich eventuell plötzlich weg muss. Einmal hatte ich Gäste, das Essen war gerade fertig und der Tisch gedeckt, als ich zu einer Geburt gerufen wurde.
Wie reagierten die Gäste?
Gut. Die meisten Leute fiebern selbst mit, wenn eine Geburt ansteht. Meine Familie unterstützt mich sehr, weil sie weiss, wie wichtig mir diese Arbeit ist. Ich selbst freue mich immer, wenn es losgeht!
Nach der Geburt müssen Sie sich von den Müttern trennen. Fällt Ihnen das schwer?
Nach einer Geburt fühle ich mich oft wie frisch verliebt. Aber ich kann die Gefühle einordnen und lasse das enge Band bewusst wieder loser werden.
Zur Person: Martina Dolder
Die 42-Jährige begleitet Frauen in der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbett, in Fachkreisen spricht man von Doula. Rund um den Geburtstermin ist sie Tag und Nacht erreichbar. Die gelernte Drogistin lebt mit ihrem Mann und den zwei Teenagern in Wädenswil ZH.