Sie waren 28 Jahre bei den Samaritern in Murgenthal AG tätig. Dann mussten Sie als Präsidentin den über 100-jährigen Verein auflösen. Wie war das für Sie?
Schlimm. Am Ende waren wir nur noch vier Mitglieder. Wir räumten das Vereinslokal auf, löschten das Licht und drehten den Schlüssel um. Dann begannen wir zu weinen. Neben mir stand ein Mann, der seit 68 Jahren im Verein war.
Viele Samaritervereine hören mangels Nachwuchs auf. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Viele Leute wollen sich nicht mehr langfristig in einem Verein engagieren. Vielleicht mal für ein Projekt, aber nicht mehr. Wir sind heute eine Vergnügungsgesellschaft, in den Städten noch mehr als auf dem Land. In Olten zum Beispiel gibt es keinen einzigen Samariterverein mehr.
Es gibt also keinen Grund für Selbstkritik?
Doch, unbedingt. Wir haben es nicht geschafft, zu zeigen, was wir machen. In manchen Köpfen geistert noch das Bild von strickenden Samariterinnen an einem Schülerturnier herum, die Tee trinken und Kuchen verkaufen. Das ist falsch. Alle zwei Jahre bringen wir unser Wissen in Kursen auf den neusten Stand. Diesen Aufwand wollen immer weniger Junge auf sich nehmen.
Dachten Sie schon mal ans Aufhören?
Nein, nie. Nach der Vereinsauflösung vor zwei Jahren wechselte ich zum Samariterverein im Nachbardorf. Manchmal staune ich selbst, dass ich schon so lange dabei bin. Als junge Frau konnte ich kein Blut sehen. Erst als Jahre später mein Sohn mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte auf die Welt kam und ich mit ihm viel Zeit im Spital verbrachte, wurde Blut für mich zu einer normalen Sache.
Bald beginnt die Samaritersaison. Sie werden an Fussballturnieren, Velorennen und Kinderfesten aktiv sein. Was ist die wichtigste Eigenschaft eines Samariters vor Ort?
Verschwiegenheit. Bei einem Notfall ist die betroffene Person oft sehr verletzlich. Als Samariterin erfahre ich viel. All das darf nicht an einem Stammtisch oder irgendwo sonst im Dorf landen. Auch muss ich auf Leute eingehen können. Ich versuche, behutsam und doch zielgerichtet herauszufinden: Was ist passiert, und was braucht die Person? Diese Fähigkeit ist nicht so leicht zu erlernen – im Gegensatz zum medizinischen Wissen.
Wäre es schlimm, wenn es in der Schweiz keine Samariter mehr gäbe?
Für die Mitglieder sicher. Was aber oft vergessen geht: Samariter leisten in ihrer Freizeit einen Dienst, ohne den viele Anlässe gar nicht durchgeführt werden könnten. Denn von Amtes wegen müssen sie über einen Sanitätsposten verfügen.
Sanitätsdienste können doch auch Private leisten.
Ja – dann kosten die fünf Stunden Sanitätsdienst vor Ort aber nicht 200 Franken wie bei uns, sondern 1500 Franken. Veranstalter mit grossen Sponsoren können sich das leisten, nicht aber kleine Anlässe wie etwa «de schnällscht Murgenthaler». Eine Schweiz ohne Samariter hiesse: Ein Teil des Lebens in den Dörfern und Städten würde sterben.
Zur Person
Manuela Siegenthaler, 58, ist in ihrer Freizeit seit 30 Jahren als Samariterin tätig. Die Damenschneiderin lebt mit ihrer Familie in Murgenthal AG.