Anfang Februar schrieben viele Zeitungen, ein Viertel der Coronapatienten seien von Long Covid betroffen. Sie hätten sich auch nach einem halben Jahr noch nicht erholt. Dies habe eine Studie des Epidemiologen Milo Puhan von der Universität Zürich gezeigt. Puhan hatte rund 400 von über 4600 Personen befragt, die im Kanton Zürich zwischen März und August 2020 mit Corona infiziert worden waren. Long-Covid-Betroffene klagen über Beschwerden wie Kopfschmerzen, chronische Müdigkeit, Atemnot und Haarausfall.
Mit Folgen in der Politik: So forderte Chantal Britt, Gründerin einer Selbsthilfeorganisation von Betroffenen, gegenüber Swissinfo.ch einen «harten Lockdown» wegen der Langzeitfolgen. Und für Bundesrat Alain Berset ist Long Covid ein Grund, warum man die Massnahmen nicht lockern könne. Dies sagte Berset Mitte März während der Coronadebatte des Nationalrates.
Fachleute kritisieren nun: Long Covid sei übertrieben, die Studie der Uni Zürich habe die Zahl der Betroffenen zu hoch eingeschätzt. Die Ärztin Barbara Bertisch von der Praxis «Check in» in Zürich schrieb in der «Neuen Zürcher Zeitung», die Studie habe vorwiegend schwere Fälle aus der ersten Coronawelle untersucht. Heute könnten die Spitäler Coronapatienten besser behandeln, was die Langzeitfolgen vermindere. Der Epidemiologe Heiner C. Bucher vom Universitätsspital Basel sagte gegenüber der Plattform «Infosperber», die Forscher hätten nur knapp jeden Zehnten der über 4600 bekannten Covid-Infizierten im Kanton Zürich untersucht. Von dieser Minderheit könne man keine Rückschlüsse auf alle Covid-Fälle ziehen.
Atemprobleme kommen nach Covid häufiger vor
Auch neue Studien ergeben, dass Long-Covid-Fälle weniger oft vorkommen, als dies die Zürcher Studie darstellt. Forscher der Harvard-Universität in Boston (USA) untersuchten rund 190 000 Patienten im Alter bis 65 Jahren mit nachweislicher Coronainfektion. 14 Prozent von ihnen hatten innert vier Monaten nach der Genesung noch Beschwerden, wegen derer sie den Arzt aufsuchten. Die Forscher verglichen die Long-Covid-Betroffenen mit Patienten, die an anderen Atemwegsinfektionen wie Grippe, Bronchitis oder Lungenentzündung erkrankt waren. Dabei zeigte sich: Fast gleich viele Patienten, nämlich 13 Prozent, gingen zum Arzt. Philip Tarr, Infektiologe am Kantonsspital Baselland, sagt: «Das ist beruhigend, weil es zeigt, dass die länger andauernden Beschwerden nach Covid nicht aussergewöhnlich häufig vorkommen.» So kommen zwar Atemprobleme bei Covid etwas häufiger vor, nicht aber Herzbeschwerden.
Die Beschwerden nach einer Covid-Erkrankung dauern meist nur wenige Wochen. Das zeigt eine neue Studie in der Fachzeitschrift «Nature Medicine». Die Forscher untersuchten über 4000 Covid-Patienten aus England und den USA. Vier von fünf Patienten waren nach einem Monat wieder ganz gesund. Nur bei einem von 40 Patienten hielten die Beschwerden drei Monate an.
Kommt dazu, dass zumindest ein Teil der Beschwerden gar nicht von der Covid-Infektion stammen soll, sondern von der Spitalbehandlung. Philip Tarr: «Wer auf der Intensivstation war, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, dass er eine Rehabilitation und Physiotherapie braucht, um wieder auf die Beine zu kommen.»
Zur Kritik sagt Milo Puhan, die Patienten seiner Studie seien zwischen März und August 2020 krank geworden. Es sei noch nicht bekannt, welche Behandlung Spätfolgen verhindern könne. Jede Studie enthalte eine Auswahl von Patienten. Das bedeute nicht, dass seine Studie nicht repräsentativ sei. Er habe sowohl Patienten ohne Krankheitsanzeichen untersucht als auch Schwerkranke. Die Harvard-Studie sei aber interessant und gut gemacht, räumt Puhan ein.