Gentian Mazrekaj steht im Meer, seine trainierten Muskeln glänzen. Der 19-Jährige aus Zollikerberg ZH hat das Foto von sich auf die Internetplattform Facebook hochgeladen. Das kommt bei seinen Bekannten gut an. Eine junge Frau schrieb darunter: «Sexy junger Mann, schön definierte Muskeln.» Mazrekaj macht viel für seinen Körper. Pro Woche trainiere er zehn bis zwölf Stunden Kampfsport und Kraft, erzählt er dem Gesundheitstipp. Eines seiner Vorbilder ist der bulgarische Bodybuilder Lazar Angelov: «Er hat den besten Körper», sagt Mazrekaj. Im Internet finden sich viele Fotos von Angelov.
Seine riesigen Bauchmuskeln scheinen fast zu explodieren, schwarze Tätowierungen zieren den Oberkörper. Nicht nur Bodybuilder, auch Musiker, Sänger und TV-Stars haben zunehmend gestählte Körper: Der US-Sänger Jason Derulo präsentiert in Musikvideos seine dicken Bizeps und lässt sich von Frauen den nackten Oberkörper streicheln. Auch Darsteller in britischen TV-Serien wie «Geordie Shore» und «Ex on the Beach» haben übermässig aufgepumpte Muskeln. Selbst der Kandidat der Schweizer TV-Show «Bachelor», Rafael Beutl, zeigt oft seinen Waschbrettbauch.
Das prägt: Eine Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2010 zeigt: Knaben in der Schweiz werden immer unzufriedener mit ihrem Körper. Jeder fünfte Jugendliche findet sich zu dick, jeder zehnte macht Diäten. Und das, obwohl die Hälfte der Buben normalgewichtig ist. Zum Vergleich: 2002 versuchte nur jeder siebzehnte Teenie abzunehmen.
Bei einer Strassenumfrage des Gesundheitstipp sagte jeder zweite junge Mann, er gehe regelmässig ins Krafttraining. Hadi Assani (16) aus Nesselnbach AG zum Beispiel berichtet, er trainiere fünfmal pro Woche.
Der Zürcher Beyazit Beceren (17) geht in den Ferien manchmal sogar täglich ins Training. Mario Müller, Leiter des Migros-Fitnessparks Allmend in Luzern, bestätigt, dass seine Kundschaft immer jünger wird: «Bei uns kommen Jungs schon mit 14 Jahren ins Krafttraining.»
Doch es ist keineswegs gesund für Jugendliche, sich dermassen im Fitnessstudio abzurackern. Sie schaden damit nicht nur ihrem Körper, sondern auch der Psyche. Fachleute wie Bettina Isenschmid, Chefärztin im Spital Zofingen AG, warnen: «Das nimmt immer häufiger krankhafte Züge an.»
«Oft Eiweissdrinks statt Essen ist ungesund»
Für einen Körper ohne Fett braucht es nicht nur hartes Training, sondern auch eine Diät. Viele Teenager verzichten auf Fettiges und Süsses, kochen sich dafür Speisen mit magerem Fleisch oder Hülsenfrüchten oder setzen auf Eiweissdrinks.
Für Erika Toman, Psychologin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas, ist es «extrem», wenn junge Männer ihren Speiseplan so stark einschränken. Normalerweise esse ein Mensch ohne zu zögern Brot mit Käse, wenn er keine Zeit zum Kochen habe, sagt sie. «Wer stattdessen auf Präparate wie Eiweissdrinks ausweicht, zeigt ein ungesundes Essverhalten.» Ärztin Isenschmid beobachtet, dass manche Patienten «eine eigentliche Essstörung» entwickeln. Fachleute reden dann in Anlehnung an Magersucht von «Muskelsucht». Betroffene beherrscht die Angst, Muskelmasse zu verlieren und Fett zuzulegen. Ihre Gedanken drehen sich ständig um den Körper und die Frage, wann sie noch ein Training einschieben können und was sie essen sollen. Eine Studie der Harvard Medical School gibt Hinweise darauf, dass jeder zehnte Mann, der Krafttraining macht, an Muskelsucht leidet. Isenschmid: «Diese Männer schaden ihrem Körper ebenso wie Mädchen, die sich dünn hungern.»
Das zeigt sich auch, wenn sich Betroffene z. B. ein Stück Wähe leisten. Dann plage sie, so Psychologin Toman, noch Stunden ein schlechtes Gewissen. Dasselbe gelte, wenn ein Training wegfalle: «Dann quälen sie sich mit Gedanken, dass sie versagt haben.» Folge: Die jungen Männer zwingen sich in jeder freien Minute ins Training. Sogar, wenn sie sich krank fühlen.
Muskelsüchtige seien auch nie zufrieden mit ihrem Aussehen, sagt Ärztin Isenschmid: «Die Jungen sehen im Spiegel eine schmächtige Gestalt, auch wenn sie bereits recht muskulös sind.» Sie trauten sich deshalb kaum, ihren nackten Oberkörper zu zeigen, mieden Badis oder sogar intime Beziehungen.
Oft merken Betroffene jedoch nicht einmal dann, dass die Fitness ihr Leben beeinträchtigt. Isenschmid: «Oft kommen nicht die Männer in die Beratung, sondern Freundinnen und Mütter.» Diese machten sich Sorgen, weil der Freund bzw. der Sohn nur noch über Muskeln und Diäten redet.
Männer suchen oft erst dann Hilfe, wenn sie nicht mehr schlafen können, Stimmungsschwankungen oder Heisshungerattacken haben. Der Grund, so Toman: «Hat ein junger Männerkörper weniger als 10 Prozent Fett, geraten die Botenstoffe durcheinander.» Sie regulieren Schlaf, Hunger, Freude und Traurigkeit. Folge: Über die Hälfte der Muskelsüchtigen leidet an Depressionen oder krankhaften Stimmungsschwankungen. Dies belegt eine Studie des McLean-Spitals in Belmont (USA). Schlimmstenfalls nimmt sich ein Mann das Leben.
Freunde und andere Hobbys können helfen
Die gute Nachricht: Ein gesundes Verhältnis zum Körper lässt sich wieder lernen. Toman: «Die Jugendlichen müssen erkennen, dass sie dem Training viel zu viel Bedeutung beimessen.» Oder wie absurd es sei, nie ohne schlechtes Gewissen ein Sandwich essen zu können. Wenn Jugendliche das einsehen, lernen sie, das Training entspannt zu sehen – als Hobby, nicht als Zwang.
Helfen können auch Freunde und andere Hobbys, so Isenschmid: «Sind Betroffene mit Gleichaltrigen zusammen, merkten sie vielleicht, dass diese sie auch wegen ihrer Persönlichkeit liebenswert finden.» Und wenn ein Jugendlicher etwa Gitarre spiele, falle ihm vielleicht auf, dass andere Jungs ihn dafür bewunderten. Das sei heilsam, dann realisiere er: «Andere Menschen mögen mich nicht nur wegen meiner Muskeln», sagt Isenschmid.
Umfrage «Gehen Sie regelmässig ins Krafttraining – und wieso?»
Burim Cakolli (16), Zürich
«Seit ich trainiere, zeige ich mich lieber oben ohne in der Badi. Aber ich möchte noch zulegen. Muskeln sind gut fürs Selbstwertgefühl. Ich trainiere fünfmal pro Woche 60 bis 90 Minuten. Ausserdem schaue ich, dass ich nicht zu viel esse, und trinke Proteinshakes»
Hadi Assani (16), Nesselnbach AG
«Im Schullager bin ich manchmal oben ohne rumspaziert, das hat Frauen angezogen. Freunde staunen über meine Erfolge. Mein Vater motiviert mich fürs Kraftraining. Es macht Spass – ich gehe seit zwei Jahren fünfmal pro Woche bis zu eineinhalb Stunden hin»
Marlon Altenburger (16), Zürich
«Nach dem Training bin ich jeweils glücklich. Ich gehe drei- bis viermal pro Woche für 30 bis 40 Minuten ins Training. Eigentlich hatte ich schon etwas mehr Muskeln erwartet, aber jetzt bin ich ganz zufrieden. Die meisten meiner Freunde trainieren auch»
Yves Kaufmann (15), Zollikon ZH
«Ich gehe ins Training, um fitter und schlanker zu werden. Bevor ich damit anfing, war ich dicker, aber ich möchte noch weiter abnehmen. In der Badi will ich mich immer noch nicht unbedingt präsentieren. Süsses und Fettiges esse ich nicht»
Gentian Mazrekaj (19), Zollikerberg ZH
«Zweimal pro Woche esse ich mit der Familie. Sonst koche ich mir drei Mahlzeiten täglich mit viel Eiweiss oder trinke einen Proteinshake. Der Sport gibt gute Laune. Meine Trainingstipps hole ich aus dem Internet, aber man sollte nicht alles glauben»
Beyazit Beceren (17), Zürich
«Meine Eltern fänden es besser, ich würde weniger trainieren und mehr fürs Gymi lernen. Ich trainiere viermal wöchentlich eine Stunde, in den Ferien siebenmal. Ich habe erst vor einem halben Jahr angefangen. Damit ich zufrieden bin, brauche ich noch etwas mehr Muskeln»
Test: Läuft das Krafttraining aus dem Ruder?
Wenn folgende Aussagen auf Sie zutreffen, dreht sich Ihr Leben zu sehr um Muskeln:
- Sie denken drei Stunden und mehr pro Tag an Ihr Fitnessprogramm.
- Wenn Sie ein Training auslassen, werden Sie nervös, deprimiert oder haben Magenschmerzen.
- Sie haben einen strikten Ernährungsplan mit viel Eiweiss und kaum Fett. Weichen Sie davon ab, haben Sie Schuldgefühle.
- Fürs Training lassen Sie Schule, Arbeit oder Freunde sausen.
- Sie schämen sich, wenn andere Sie in der Badehose sehen.