Keine Frau muss nackt vor dem Arzt stehen
«Ziehen Sie auch BH und Slip aus», heisst es immer wieder beim Arzt. Doch beides zugleich - das ist praktisch nie nötig. Jetzt sagen Ärzte der medizinischen Gesellschaft Basel, was bei einer Untersuchung angebracht ist.
Inhalt
Gesundheitstipp 2/2003
19.02.2003
Thomas Grether - thgrether@pulstipp.ch
Das Ausmass der sexuellen Übergriffe in Arztpraxen und Spitälern sei «erschreckend». Ärzte sprachen von einer «alarmierenden Situation». Auch Patientinnen und Patienten berichteten im Puls-Tipp (Ausgabe 1/03), sie seien von Ärzten sexuell missbraucht worden.
Jetzt wollen Ärzte in den eigenen Reihen aufräumen und Übeltätern einen Riegel schieben. Dafür setzt sich allen voran die medizinische Gesellschaft Basel ein. Auf ihren Druck muss sich am 12. April die Ärztekamme...
Das Ausmass der sexuellen Übergriffe in Arztpraxen und Spitälern sei «erschreckend». Ärzte sprachen von einer «alarmierenden Situation». Auch Patientinnen und Patienten berichteten im Puls-Tipp (Ausgabe 1/03), sie seien von Ärzten sexuell missbraucht worden.
Jetzt wollen Ärzte in den eigenen Reihen aufräumen und Übeltätern einen Riegel schieben. Dafür setzt sich allen voran die medizinische Gesellschaft Basel ein. Auf ihren Druck muss sich am 12. April die Ärztekammer, das höchste Ärztegremium der Schweiz, mit dem Thema befassen - erstmals überhaupt.
Höchste Zeit. Denn glaubt man den Zahlen von anonymen Umfragen unter Ärzten, sind Übergriffe an der Tagesordnung. Manchmal nützen sie die Nähe zu Patientinnen fast unmerklich aus. Etwa dann, wenn sich eine Patientin für eine Untersuchung ausziehen soll - wie Claudia Müller*, 31, aus Bern. «Wir waren allein im Sprechzimmer. Der Arzt sagte, ich solle mich entkleiden, also zog ich den Pullover aus», erinnert sie sich. Bis dahin habe für sie alles gestimmt. Dann aber habe der Arzt sie aufgefordert, auch den BH abzulegen. «Das irritierte mich, denn ich wollte ja eigentlich nur eine Erkältung abklären lassen.» Claudia Müller zog den BH trotzdem aus. Der Arzt habe darauf ihre Lunge abgehört. «Zuerst sass ich ihm gegenüber, dann musste ich mich hinlegen.» Sie habe sich unbehaglich gefühlt und darauf den Arzt gefragt, ob es überhaupt nötig sei, den BH abzulegen. Dieser habe geantwortet, es gehe nicht anders.
Das stimmt nicht. Ärzte können Herz und Lunge sehr wohl abhören, ohne dass der BH dabei stört. «Nur bei Verdacht auf eine ernsthafte Herzkrankheit müssen Patientinnen dabei den BH ausziehen», sagen kritische Ärzte übereinstimmend.
Ärzte lernen nirgends, was Feingefühl heisst
Werner Tschan, Psychiater und Leiter der Basler Anlaufstelle für sexuell belästigte Patienten (Pabs): «Es ist wichtig, dass Patientinnen genau wissen, wann BH und Slip wegmüssen.» Ärzte der medizinischen Gesellschaft Basel haben dazu für den Puls-Tipp Empfehlungen ausgearbeitet (siehe Kasten).
Vorschriften seitens der Ärzteorganisationen gibt es keine. Jeder Arzt kann selbst bestimmen, wie, wann und wo sich Patienten auszuziehen haben. Die Ärzte lernen nirgends, was Patienten als sexuelle Belästigung oder als Übergriff interpretieren könnte. Und die Ärzteberufsorganisation FMH «hat nie angeregt, das Thema in Weiterbildungen zu integrieren», räumt deren Sprecher Reto Steiner ein.
Richtiges Verhalten beginnt schon vor der Behandlung. «Oft wünscht das Praxispersonal, dass man ausgezogen auf den Arzt wartet. Dies sollte man ablehnen», rät der Allgemeinmediziner Pierre Périat aus Riehen BS. «Im Sprechzimmer sitzt man dem Arzt zuerst immer vollständig bekleidet gegenüber. 90 Prozent der Diagnose lassen sich durch die Krankengeschichte und das Gespräch mit dem Hausarzt stellen.»
Die blosse Nacktheit allein führe noch nicht zu einem Übergriff, sagt Werner Tschan. Manche Ärzten würden bloss nicht merken, wann es der Patientin oder dem Patienten peinlich ist. «Absicht steckt in diesen Fällen aber nicht dahinter, eher die Abnützung im Beruf.»
Wenn aber ein Arzt die nackte Patientin anzüglich anschaut, ist die Grenze überschritten. Einen verbalen Angriff hat Patientin Renate Schneider* erlebt. «Ich stand nur mit einem Slip bekleidet vor dem Rheumatologen. Plötzlich fragte er mich, ob ich wisse, dass ich eine attraktive Frau sei», erzählt sie. «Ich hatte das Gefühl, der Arzt ist nur an meinem Körper interessiert.»
Renate Schneider informierte ihren Hausarzt über den Vorfall. «Er fragte mich, weshalb ich Probleme habe, ein Kompliment anzunehmen.» Als der Puls-Tipp nachfragt, schaltet der Arzt seinen Anwalt ein und lässt gerichtlich verbieten, seinen Namen zu nennen. Zum Fall nimmt er aber trotzdem Stellung. Er habe die Auffassung der Patientin geteilt, dass die Bemerkung «deplatziert» gewesen sei. Im Verlaufe der Konsultation sei jedoch das Wort «sexuelle Belästigung» nie gefallen. Er habe nur versucht, die Aussage seines Kollegen zu relativieren. Dieser wiederum will dazu keine Stellung nehmen.
Anzügliche Bemerkungen sofort zurückweisen
Jede Bemerkung, auch Komplimente oder Witze seitens des Arztes seien «fehl am Platz», sagt die Basler Gynäkologin Noémi Deslex-Zaïontz. Eine Patientin sei zudem «nie» ganz nackt, auch auf dem Gynäkologenstuhl nicht. «Sie ist immer entweder oben oder unten angezogen. Alles andere ist unkorrekt.» Gleiches gilt beim Urologen.
Werner Tschan rät, anzügliche Bemerkungen sofort zurückzuweisen. «Vorsätzlich handelnde Ärzte picken sich Patientinnen heraus, die sich gegen lüsterne Blicke nicht wehren, unsicher reagieren und sich manipulieren lassen.» Wichtig sei deshalb, dass man eine Untersuchung stoppe, wenn man sich nicht wohl fühle oder die Stimmung anzüglich werde. Seriöse Ärzte schützen die Patientin und sich selbst, indem sie das Sprechzimmer verlassen, wenn es ans Ausziehen geht.
Oder aber sie stellen eine geschützte Umziehecke zur Verfügung. Doch die gibt es längst nicht überall. «Die Patienten ziehen sich in meinem Sprechzimmer neben meinem Tisch aus. Ich schaue nicht hin, sondern schreibe meist etwas auf», sagt etwa Heiner Brunnschweiler, Leiter der neurologischen Abteilung der Reha-Klinik Rheinfelden. Das sei auch in den sechs Spitälern nicht anders gewesen, in denen er zuvor gearbeitet habe. Brunnschweiler räumt ein: «Es muss sich etwas ändern. Ich werde dafür sorgen, dass sich die Patienten hinter einem Paravent umziehen können.»
*Name geändert
Beim Abhören müssen Sie weder BH noch Slip ausziehen
Ärzte der medizinischen Gesellschaft Basel sagen, bei welcher Untersuchung die Patientin was ausziehen muss.
- Abhören von Lunge und Herz
BH anbehalten
Slip anbehalten
Bei einer Erkältung hört der Arzt die Lunge und die Atmung vor allem am Rücken ab. Stört ein extrem breiter BH-Verschluss, sollte der Arzt Sie fragen, ob er das Teil etwas verschieben kann. Tops müssen meist ausgezogen werden.
Hört der Arzt routinemässig das Herz ab, sollte er Sie fragen, ob er den BH falls nötig etwas zur Seite schieben darf. Nur bei Verdacht auf eine Herzkrankheit ist es nötig, dass Sie während der Untersuchung den BH ausziehen.
- Abtasten der inneren Organe
BH anbehalten
Slip anbehalten
Der Arzt tastet den Bauch ab und prüft so innere Organe wie Nieren, Leber oder Milz. Dabei liegt die Patientin. Der Arzt tastet bis zum Unterrand der Rippen. Die Brüste sollte er nur untersuchen, wenn die Patientin dies ausdrücklich verlangt. In diesem Fall muss sie den BH ausziehen.
Nach unten tastet der Arzt bis zum Ansatz der Schambehaarung nach Geschwulsten und Veränderungen, ebenso seitlich in der Leiste nach Knoten. Bei einer Routineuntersuchung sollte der Arzt Sie vorher fragen, ob er die Genitalien untersuchen soll.
- Elektrokardiogramm (EKG)
BH ausziehen
Slip anbehalten
Dies gilt auch fürs Belastungs-EKG auf dem Velo. Die Hose kann man ebenfalls anbehalten.
- Untersuchung der Haut
BH anbehalten
Slip anbehalten
Bei einer Routineuntersuchung, wie etwa auf Leberflecken, sollte der Arzt Sie darauf ansprechen, ob er Sie auch im Intimbereich untersuchen soll. Daraufhin können Sie selbst entscheiden, ob Sie sich frei machen wollen oder nicht.
- Beim Gynäkologen und Urologen
BH ausziehen
Slip ausziehen
Sie sind nie völlig nackt. Das heisst: Frauen sind auf dem Untersuchungsstuhl zuerst unten frei. Danach ziehen sie Slip und Hose wieder an und den BH aus. Beim Urologen ist man unten entblösst, dies aber nur für die Zeit, in der untersucht wird. Wie der Gynäkologe sollte auch der Urologe jeden Schritt ankündigen und erklären.
- Röntgen von Brustkorb und Becken
BH anbehalten
Slip anbehalten
Für Mammografie und Ultraschall ist es nötig, den BH auszuziehen. Bei allen anderen Aufnahmen kann man die Unterwäsche anbehalten.